Mein Jannis Ritsos*


Jürgen Werner

1971 konnte man in „Les Lettres Françaises“ lesen: „Le plus grand poète vivant s’appelle Yannis Ritsos.“ Der Satz stammte von keinem geringeren als Louis Aragon. Dieser „größte lebende Dichter“, so hört man, ist gegen das Biographische. Aber Dichtung erwächst aus dem Leben; für Stephan Hermlin ist die Vita eines Autors die Probe auf die Erwartung, es mit einem wesentlichen Dichter zu tun zu haben, und das ist für ihn einer, der über eine exemplarische „innere Geschichte“ verfügt, bei dem die „Leiden der Zeit, die Befürchtungen, Wünsche und Auseinandersetzun¬gen der Gesellschaft“ eins geworden sind mit seinem Ich. Um noch einmal Aragon zu zitieren: Jannis Ritsos „ist das ganze Leben seines Volkes, seine Schmerzen, sein Gesang.“
Ritsos wird am 1. 5. 1909 in Mo¬nem¬vasia (Peloponnes) geboren, als viertes Kind eines Gutsbe¬sitzers. Nach der Grundschule besucht er 1921-25 das Gymnasium in Gythion. Kindheit und Jugend sind überschattet von der Spielleidenschaft des Vaters, die zum finanziellen Ruin der Familie führt – der Vater stirbt später in geistiger Umnachtung -, und von der in der Familie grassierenden Tbc. An ihr sterben 1921 die Mutter und der Bruder, und Jannis wird selbst jahrelang unter dieser Krankheit zu leiden haben. Er spricht gelegentlich von der „Last kranker Geschlechter“ und davon, dass er „Kind ohne Kindheit“ gewesen sei. Geld für ein Studium ist nicht da. „Ich studierte Geschichte der Vergangenheit und der Zukunft an der zeitge¬nössischen Fakultät des Kampfes“, sagt er 1975 in dem Ge¬dicht „Angaben zur Identität“. Er geht nach Athen und schlägt sich als Büroangestellter durch. (Beeindruckend die kalligraphische Klarheit seines Schriftbildes, zugänglich in der zweisprachigen Ausgabe „Kleine Suite in rotem Dur“, Berlin 1982.) Selbst eine solche Existenz ist schwierig genug, ist doch Griechenland und zumal Athen überfüllt mit Arbeitslosen: Ein expansionistischer Krieg Griechenlands gegen den „kranken Mann am Bosporus“ – ein Krieg, der die Megali Idea, die „Große Idee“, den Traum von einem neuzeitlichen griechischen Großreich in byzantinischen Dimensionen mit Einschluss Anatoliens realisieren sollte – hatte 1922 mit der „Kleinasiatischen Katastrophe“ geendet; die meisten Griechen, die bis dahin in uraltem griechischem Siedlungsgebiet an der Ostküste der Ägäis und der Südküste des Schwarzen Meeres gelebt hatten, kamen jetzt, soweit sie nicht niedergemetzelt worden waren, nach Griechenland, das, noch weitgehend Agrarland, vergleichsweise wenige Arbeitsmöglichkeiten bot. 1926, kurz nachdem Ritsos nach Athen gekommen ist, nötigt ihn die Tbc, in seinen Heimatort zurückzugehen. Jahre hindurch befindet er sich überwiegend in Sanatorien. In den 30er Jahren arbeitet er in den verschiedensten Berufen, un¬ter anderem als Schauspieler, Tänzer, Regisseur, Korrektor, Lektor.
Ritsos beginnt, sich mit dem Marxismus zu beschäftigen. Er liest Varnalis, den ersten kommunistischen Dichter Griechenlands, und Majakowski, dem er 1953 ein Gedicht widmen wird („Guten Tag, Wladimir Majakowski“) und der für ihn „der erste Dichter unseres Jahrhunderts“ ist. 1931 schließt er sich der kommunistischen Bewegung an, der er zeit seines Lebens verbunden bleibt. Nach dem Überfall Italiens und Deutschlands auf seine Heimat (1940/41) gehört er der Antistasi, der griechischen Résistance, an. Ab 1944 kämpft er gegen das einheimische Establishment (Krone Militär, Großbürgertum), das mit Hilfe der britischen ‚Befreier’ für eine gewisse Zeit das Rad der Geschichte zurückzudrehen vermag. 1948-52 befindet er sich in KZs wie Makronisos, nicht weit entfernt vom Stolz Griechenlands, der Akropolis; weltweite Proteste – von Picasso, Aragon, Elsa Triolet, Eluard, Sartre, Simone de Beauvoir, Malraux, Ehren¬burg, Simonow, Hikmet, Amado – kämpfen ihn frei, ohne dass er den berüchtigten Loya¬litätseid leistet. Es folgen Jahre des ungehinderten Schaffens, der Reisen, Jahre auch der offiziellen Anerkennung. Als sich 1967 eine Militärdiktatur etabliert, ist Ritsos unter den ersten, die verhaftet und deportiert werden. Dank internationalen Solidaritätsaktionen wird er 1968 entlassen. Danach steht er auf Samos unter Hausarrest. Normale Lebens- und Schaffensbedingungen gibt es für ihn erst 1974, als die Junta mit ihrem Latein bzw. Griechisch am Ende ist.
Ritsos schreibt nicht nur, er huldigt auch anderen Künsten, etwa in seinen Steinzeichnungen von Aufenthalten in griechischen KZs; eindrucksvolle Proben, von Manfred Küchler meisterhaft fotografiert, enthält der schon genannte Band „Kleine Suite in rotem Dur“. – Gedruckt werden Gedichte von ihm ab 1927, das erste am 1. Mai, an seinem 18. Geburtstag: zarte, pessimistische Gebilde aus Ritsos’‚Zauberberg’, der allerdings mit dem aristokratischen von Thomas Mann wenig gemein hat.
Der erste Gedicht-Band, 1934, heißt „Traktor“. In ihm besingt Ritsos den sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion, erhebt die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit. Die griechische Literaturszene, der damals noch „politisch Lied ein garstig Lied“ ist wie den Spießern in Goethes „Faust“ – „technisch Lied“ ebenfalls -, rea¬giert ablehnend: Wie kann ein griechischer Dichter über den Sozialismus, wie ein Lyriker über Traktoren schreiben? Später hält Ritsos dagegen: „Ich war ein Kämpfer, bin es noch, und werde es immer sein.“
1936 werden in Saloniki de¬monstrierende Arbeiter ermordet. Ritsos schreibt den „Epitaphios“, „Trauergesang“, in dem eine Mutter ihren toten Sohn beweint, dann aber von der Klage zur Anklage übergeht, zu einem revolutionären Aufschrei gegen die Ausbeuter und Unterdrücker. Neben ihren Zorn, neben ihre Zärtlichkeit gegenüber dem geliebten Sohn und seinen Genossen, die ihre Söhne sein werden, tritt die Zuversicht dieser unbeugsamen Frau. – Der „Epitaphios“ erscheint in 10000 Exemplaren, einer für damalige Verhältnisse sensationellen Auflage. Der Diktator Metaxas, 1936 zur Macht gekommen, setzt das Werk auf den Index, lässt es verbrennen. Symptomatisch für die Verhältnisse in Griechenland: Der „Epitaphios“ kann erst nach 20 Jahren wieder erscheinen, und schon 1967 wird er, von den Obristen, erneut verboten. – Später komponiert Theodorakis Teile des „Epitaphios“ (und andere Ritsos-Dichtungen). Diese Vertonungen sind umso wichtiger, als Griechenland, aus verschiedenen Gründen, damals noch weit we¬niger Lesegesellschaft, Literaturgesellschaft als heute ist. Teuer gedruckte Lyrik in meist niedriger Auflage ist zu jeder Zeit in breiten Schichten relativ wenig bekannt; allerdings hat sie die Chance, im besten Sinne des Wortes volkstümlich zu werden, wenn sie von hervorragenden Komponisten wie Theodorakis vertont und von hervorragenden Interpreten wie Maria Farandouri dargeboten wird. In Ländern, die über Jahrzehnte hinweg vergleichbare ökonomische und politische Bedingungen hatten, Spanien z. B., war es offensichtlich ähnlich. Gedichte müssen singbar sein, hat Brecht gesagt.
Im „Epitaphios“ verwendet Ritsos, wie in seinen früheren Ge¬dichten, den traditionellen, vom Volkslied her vertrauten Fünfzehnsilbler, paarweise gereimt, mit Anlehnung besonders an das Miroloji, das Klagelied. Schon mit zwölf Jahren hat er den Fünfzehnsilbler mühelos gehandhabt, mündlich wie schriftlich. 1937 veröffentlicht er „Das Lied meiner Schwester“. Es ist seiner psychisch kranken Lieblingsschwester gewidmet. Das „Lied“ markiert einen wichtigen Einschnitt in Ritsos’ Schaffen: Er schreibt jetzt verhältnismäßig kurze Verse in freien Rhythmen, ohne Reime. Aus der 1954 publizierten „Prüfung“ geht hervor, dass sich Ritsos schon 1935 mit den freien Rhythmen beschäftigt hat, ebenso wie andere griechische Dichter. – Der Band wird von Kostis Palamas, dem ‚Patriarchen’ der griechischen Dichtung, enthusiastisch begrüßt. Auf einen der früheren Berufe von Ritsos anspielend schreibt er: „Die griechische Dichtung hat zum ersten Mal einen so kräftigen und mutigen Tänzer gefunden ... wir treten beiseite, um dich vorbeizulassen.“
In den Werken der nächsten Jahre bemüht sich Ritsos, die Schatten der Vergangenheit hinter sich zu lassen, etwa in der „Früh¬lingssinfonie“, in „warmen Tönen einer Euphorie im Glück der Liebe“, wie es die Übersetzerin I. Rosenthal-Kamarinea formuliert:

Du schreitest
in meinen verstaubten Räu¬men einher
in einem weiten Frühlings¬kleid,
das nach grünen Blättern duftet,
nach frisch gewaschenem Himmel
und nach Möwenflügeln
über einem morgendlichen Meer.

Sieh dir die Fotos an
- die verstorbene Mutter,
der verstorbene Bruder
und meine blasse Schwester
mit den mondähnlichen Locken
und mit einem feinen Lächeln,
das auf ihrem Gesicht hängt
wie ein Käfig mit Kana¬rienvögeln,
der in einem ärmlichen Haus hängt,
in dem alle gestorben sind.

Wo ist ein Lastträger,
der alle diese Möbel
in den Keller brächte?

Gehen wir in die Felder,
um den Mohn und die Sonne
und das frische Gras
wie Ringe an den Fingern zu tragen.

Partien aus der „Frühlings¬sinfonie“ waren zusammen mit anderen Texten 1984 in Dresden im Rahmen der 7. Sinfonie von Theodorakis zu hören.
Die Gedichte der darauf folgenden Schaffensperiode reflektierten die italienisch-deutsche Besetzung (1940-44) und den Bürgerkrieg (1944-49). In all diesen Jahren, unter schwersten Bedingungen, ist Ritsos produktiv wie kein anderer griechischer Schriftsteller, Kazantzakis ausgenommen. Der Schauspieler Manos Katrakis hat geschildert, wie sein Freund Ritsos in Makronisos oft vom frühen Morgen an ge¬schrieben (und gezeichnet) hat, ohne an Essen und Trinken zu denken, und unter welchen Um¬ständen! Dazu Ritsos selbst in „Herakles und wir“:

Und wenn euch unsere Verse
eines Tages ungeschickt erscheinen, denkt nur daran, dass sie
geschrieben wurden
unter den Augen der Wächter und mit der Lanze immer in unserer Seite.
(Übersetzung: Armin Kerker)

Bei all dem hat Ritsos eine unerschütterliche Hoffnung auf ein besseres Morgen. Diese Hoffnung bringt beispielsweise das 1942 geschriebene, 1961 veröffentlichte Buch „Das letzte Jahr¬hundert vor dem Menschen“ zum Ausdruck. 1945-47 schreibt Ritsos eines seiner berühmtesten Gedichte, „Romiosini“, „Griechentum“, sein Hohelied auf sein Land und sein Volk, gleichsam einen seiner – um es mit einem Hölderlin-Titel zu sagen – „Vaterländischen Gesänge“, ungeachtet allen mediterranen Kolorits von ganz anderem Charakter, als es die sonst damals in Griechenland verbreitete Ägäis-Poesie hat. Hieß es etwa bei Jorgos Seferis, einem der bedeutendsten griechischen Dichter des 20. Jhs., in „Mythos Geschichte“ (1935):

Unser Land ist umschlossen, nichts als Berge,
die ein niedriger Himmel überdacht, Tag und Nacht,
wir haben keine Flüsse, auch keine Brunnen, keine Quellen,
nur wenige Zisternen, und auch diese leer
- Verse, „deren Melancholie abstrakt bleibt“, wie ihr Übersetzer Armin Kerker sagt, so heißt es in Ritsos’ „Romiosini“:
Diese Bäume dulden einen geringeren Himmel nicht,
diese Steine verweigern sich dem fremden Schritt,
diese Gesichter können nur unter der Sonne sein,
diese Herzen schlagen nicht, außer im Recht.

Diese Landschaft ist hart wie das Schweigen,
sie presst in ihrem Schoß das heiße Gestein
[...] Es gibt kein Wasser.
Alle dürsten [...]
Ihre Hand klebt am Gewehr [...]
(Übersetzung: Thomas Nikolaou)

Ritsos besingt in diesem Gedicht (die Anfangszeile der zweiten Strophe hat der Reclam-Anthologie neugriechischer Lyrik von 1972 den Namen gegeben) das Griechenland der Beherrschten, der Unterdrückten, der Verfolgten. „Romiosini“, in Teilen von Theodorakis vertont, begeistert 1981 zum 11. Festival des Politischen Liedes in Berlin Tausende, ebenso wie die Makro¬ni¬sos-Kantate (nach Texten aus „Steinerne Zeit“, 1957) in der Vertonung von Mikrutsikos.
Von der Ägäis-Poesie anderer griechischer Dichter, die ohne gesellschaftlichen Bezug ist, distanziert sich Ritsos auch in „A.B.C.“ (die drei Buchstaben bezeichnen Verbannten-Bataillone auf Makronisos):

[...] Und das Meer der Ägäis war blau wie immer,
sehr blau, nur blau.
Ach ja, wir sprachen einmal von der Ägäis-Poesie,
von der nackten Brust der Nixe, auf die ein Anker gestickt war,
vom Licht des Meeres, das Gardinen für die Möwen häkelt. –
300 Ermordete.

Ja, wir sprachen von der Ägäis-Poesie:
Der Krebs träumt auf nassen Felsen
im Sonnenuntergang
wie eine kleine Bronzestatue im Ozean. –
600 wurden wahnsinnig [...]
(Übersetzung: Vagelis Tsakiridis)

Zu den besonders bekannt gewordenen Gedichten der 50er Jahre gehört „Der Mann mit der Nelke“, 1952 dem im gleichen Jahr ermordeten Arbeiterführer Nikos Belojannis gewidmet, der bei der Urteilsverkündung eine rote Nelke in der Hand hatte. So auch auf dem Porträt, das Picasso geschaffen hat; es ist auf dem Umschlag der schon erwähnten Anthologie „Diese Landschaft ist hart wie das Schweigen“ wiedergegeben. – 1956 erscheint die „Mondscheinsonate“, die erste in einer langen Reihe monologischer Dichtungen, nachzulesen z. B. in der Übersetzung von Recha Rothschild in „Sinn und Form“ 9 (1957), mit einer Vorbemerkung von Aragon. Ritsos zeigt darin, dass die alte Welt zum Untergang verurteilt ist; dass in ihr zwar der Wunsch, nicht aber die Fähigkeit existiert, etwas zu verändern. Das Gedicht wird in kürzester Zeit in 20 Sprachen übersetzt. Die griechische Regierung kann nicht umhin, Ritsos mit dem Großen Staats¬preis für Dichtung auszu¬zeichnen.
1969, in der Zeit der Junta, aus dem KZ entlassen, aber unter Hausarrest, schreibt Ritsos „Milos geschleift“. Das Gedicht erscheint 1971, in der Zeit einer gewissen Liberalisierung, in den „Nea Kimena“, den „Neuen Texten“, einer Anthologie mit mehr oder weniger gegen die Obristen gerichteter Tendenz. (Näheres dazu in der Leipziger Promotionsschrift 1980 von Ursula Novotny: Die kulturpolitische Lage in Griechenland in der Zeit der Junta-Herrschaft [1967-1974] unter besonderer Berücksichtigung der literarischen Situation.) In „Milos geschleift“ erzählen drei alte Frauen von der barbarischen Behandlung der Insel Melos, neugriechisch Milos (am bekanntesten unter dem italienischen Namen Milo: Venus von Milo), deren Gemeinwesen im 5. Jh. v. Chr. athenischer Aggression die Stirn bietet, schweren Repressalien ausgesetzt ist, schließlich aber neu zu existieren beginnt – ein Sinnbild der Unbezwingbarkeit antidiktatorischen Widerstands. Dieses Gedicht hat 1979 einer bibliophilen Auswahl von Ritsos-Werken im Reclam-Verlag (mit einer Radierung und Federzeichnungen von Giacomo Manzù) den Titel gegeben.
Lange war uns Ritsos vor allem als politischer Lyriker vertraut. Doch hat er besonders intensiv etwa seit 1980 auch weiblicher Schönheit und körperlicher Liebe gehuldigt, so in dem Zyklus „Erotika“ (deutsch: Berlin 1983); vorher erschien in Übersetzung bereits ein Teil dieses Zyklus, die „Kleine Suite in rotem Dur“, wobei Rot hier Symbolfarbe des Eros ist:

Schlaf an meiner Brust / sagtest du / und ich durchwachte / die Nacht an deiner Brust
Meine Hände erinnern sich deiner
Sie zieht sich an zieht sich aus / Feuer ihre Kleider / Feuer ihre Nacktheit
- schöne Gedichte auf intimste partnerschaftliche Augenblicke, auf die enthusiasmierende Wirkung scheuer Berührung ebenso wie stürmischer Umarmung.

An die hundert längere Ge¬dichte bzw. Gedichtzyklen, Dramen, Essays (so über Block, Majakowski, Hikmet, Eluard), Nachdichtungen liegen vor; diese schuf er anhand französischer Übersetzungen (so bei Majakowski und Hikmet) bzw. nach durch Dritte gefertigten griechischen Interlinearversionen – schon dies ein kaum noch überschaubares Oeuvre, geschuldet der nicht nachlassenden Produktivität dieses Dichters, der sich überdies immer neuen Genres zuwandte: der Erzählung, dem Roman. 1955 schreibt Ritsos an¬lässlich der Geburt seiner Tochter „Der Morgenstern. Kleine Enzyklopädie der Diminutive für meine Tochter Eri“. Ich gäbe gern eine Probe, aber die im Griechischen meist stark emotional getönten Verkleinerungs- oder „Schmeichelwörter“ sind im Deutschen viel seltener: „Töchterchen“, „Gärtchen“ sind in unserer Sprache gebräuchlich, aber nicht Diminutive von „Lilie“, „Schlaf“ usw. – Ritsos’ Werk wäre noch umfangreicher, wären nicht viele Manuskripte unter dem Zugiff der Asfalia, der Sicherheits¬polizei, verloren gegangen.
Ritsos ist auf vielfältige Weise bemüht, Realität realistisch zu gestalten, Zusammenhänge deut¬lich zu machen: zu den „Wurzeln der Welt“ vorzustoßen (nach dem gleichnamigen Gedicht heißt die 1970 in Berlin erschienene Ritsos-Auswahl). In dem Gedicht „Hypothek“ (1969) sagt er: „Ich schreibe einen Vers, ich schreibe die Welt; ich existiere, die Welt existiert“. Für Ritsos muss und kann die Welt mit dichterischen Mitteln verändert werden. Vertrat Seferis die Ansicht „Sprechen nützt nichts; die Meinung der Mächtigen, wer kann sie schon umstimmen? Wer wird gehört werden?“, so Ritsos: „Viele Gedichte sind wie Waffen“ („Die Verpflichtung der Dichter“, 1958). Ferdinand Freiligrath hatte 1841 verkündet: „Der Dichter steht auf einer höhern Warte als auf den Zinnen der Partei.“ Ritsos hat sich nie gescheut, als Dichter auf den Zinnen der Partei zu stehen, der er seit 1931 angehörte. Vom Personenkult, dem Ritsos mit dem 1953 Stalin gewidmeten Gedicht „Mausoleum“ huldigte (Vergleichbares taten viele andere ehrenwerte Dichter wie etwa Hermlin), distanzierte er sich einige Jahre später mit dem Elektra-Monolog „Unter dem Schatten des Berges“. (Für diesen Hinweis danke ich Asteris Kutulas.) Die gelegentlich aufgeworfene Frage, welche Haltung er Orwells „1984“ gegenüber eingenommen hat, lässt sich (noch?) nicht beantworten; wir können nicht einmal sicher sagen, ob er das Buch gele¬sen hat. (Wenn ja, dann in griechischer oder französischer Übersetzung; das Französische war die ihm vertraute Fremdsprache.) Ausdrücklich festgehalten sei, dass er in seine linke Dichtung zumindest im letzten Viertel seines Lebens eine zunehmend undogmatische Gesinnung ein¬gebracht hat: „Wir vergaßen nie die Dialektik, wir umgingen nicht die unbeantwortbarsten Fragen“ („Das ungeheure Meisterwerk“; Übersetzung: A. Kutulas). Manche der aphorismenartigen „Monochorde“ (1979) des Kommunisten Ritsos, möglicherweise im Hinblick auf die Situation in der Kommunistischen Partei Grie¬chenlands bzw. überhaupt der kommunistischen Bewegung ab¬gefasst, hätten in der DDR Be¬achtung finden sollen, wo Ritsos sehr bekannt und beliebt war: „Einspuriger Weg führt nicht in die Zukunft“, „Dieser Mensch ist heiser geworden – durch sein Schweigen“, „Sie wälzten ihre Sünden auf andere ab und wurden so heilig“ (Übersetzung: A. Kutulas). Überhaupt wich er keiner politischen, keiner ästhetischen Diskussion aus. Im „Ungeheuren Meisterwerk“ spricht er vom „Beschluss der illegalen Partei¬sitzung, wo die Genossen mit brüderlicher Sorge die Beschwerde formulierten, dass meine neuen Gedichte von bestimmten metaphysischen Tendenzen umrankt werden, und ich antwortete mit weit metaphysischeren Gedichten eines weit tieferen Realismus, ungefähr wie der von Shdanow, aber auch zusammen mit den verurteilten Katzen der Achmatova“. Shdanow war einer der engstirnigsten sowjetischen Kulturpolitiker, die Achmatova wohl die bedeutendste russische Dich¬terin, die in der UdSSR große Probleme hatte. Zur Formalismus-Debatte äußerte sich Ritsos kritisch 1957 in „Die Brücke“.
Ritsos – er starb 1990 – war einer der wichtigsten Vertreter der linken griechischen Literatur. In Griechenland anfangs offiziell totgeschwiegen oder abgelehnt – im Unterschied etwa zu Seferis, der ebenfalls zuerst in den 30er Jahren mit Gedichtbänden hervortrat -, war er in seiner Heimat und außerhalb seit den 50er Jahren der mit Abstand bekannteste und anerkannteste lebende griechische Dichter, erlangte er eine Bedeutung, „die selbst seine ihm nicht gewogenen Kritiker anerkennen müssen“, wie Pavlos Tzermias bereits 1969 in der „Neuen Zürcher Zeitung“ feststellte. Dabei gab es eine Zeitlang die Tendenz, sein Werk zu ‚entschärfen’; Armin Kerker polemisierte in einem Gedicht von 1973 dagegen:

Für Jannis Ritsos
Als sie es nicht mehr leugnen konnten,
dass da in Hellas
jemand war,
der seine Stimme erhob,
gemeinsam mit den Tabak¬arbeitern
aus Saloniki
die streikten und dafür erschos¬sen wurden,
dass da im fernen Griechen¬land
ein Dichter Worte fand
für unterdrückte Bauern
die sie auch verstanden;
als sie ihn also
selbst durch Folter
nicht zum Schweigen bringen
und trotz seiner aufwiegelnden Lieder
nicht verschweigen konnten,
entdeckten sie,
die ihn lieber tot als rot gesehen hätten,
in seinen Werken
„stille Altersreife“,
„schweres Leid“ und „tiefgeprüfte Trauer“,
„zögernde Hoffnung“ einer „noterfahrenen Weisheit“.
Es ist jetzt nötiger denn je,
ihn vor diesen zu schützen.

Die ganze griechische „(Literatur-)Generation von 1930“ – Seferis, Embirikos (*1901), Elytis (*1911) und Ritsos – wurde inhaltlich und gestalterisch stark von der übrigen zeitgenössischen europäischen Lyrik beeinflusst, von Eluard etwa. Einige Jahrzehnte zuvor hatte Rimbaud, Hauptvertreter des frühen Symbolismus, gesagt: „Il faut être absolument moderne.“ Davon ließen sich in den dreißiger Jahren auch die jungen griechischen Dichter leiten; sie wurden vor allem vom Symbolismus bestimmt mit seinen explosiven, überschäumenden Wortketten, kühnen Metaphern, Träumen. Ritsos war nicht so extrem wie andere griechische Dichter, übernahm z. B. nicht die „automatische Schreibweise“: das Verfahren, impulsiv, unreflektiert, ästhetisch unverarbeitet alles niederzuschreiben, was einem in den Sinn kommt. Zudem unterschied er sich von den anderen Dichtern seiner Generation von Anfang an durch bewusste Hinwendung zu den Ideen der Oktoberrevolution und zu der von der modernen Technik geprägten Welt. Unter seinen Vorbildern nennt er Eluard, Aragon, Neruda, Garcia Lorca, Majakowski, Ehrenburg ... Gewiss, obwohl Ritsos weniger modernistisch ist als andere Dichter seiner Generation: Auch bei ihm ist nicht alles auf Anhieb verständlich, weshalb Linke Ritsos vorwarfen, seinen Gedichte würden nicht von Arbeitern, Bauern und Fischern gelesen, sondern von Intellektuellen. Zu diesem Thema sagte ich schon einiges, vor allem zur Massenwirksamkeit vieler von Theodorakis vertonter Gedichte. (Sie war wohl einer der Gründe dafür, dass die Junta 1967 jede Theodorakis-Musik verbot.) Nicht immer leicht zu verstehen sind Ritsos-Texte zumal dort, wo kein Kontext existiert, wie bei den „Monochorden“. In „Notwendige Erklärung“ äußert er dazu: „Es gibt bestimmte Verse – manchmal sogar ganze Gedichte -, von denen ich selbst nicht weiß, was sie bedeuten. Was ich nicht weiß, erhält mich. Du hast recht zu fragen. Aber frag mich nicht.“ (Übersetzung: Niki und Hans Eideneier). – Trösten wir uns in solchen Fällen mit dem Bonmot des Sokrates über Heraklits Schriften: Sie seien dunkel, aber aus der Vortrefflichkeit dessen, was er, Sokrates, verstehe, schließe er auf die Vortrefflichkeit auch dessen, was er nicht verstehe...
Bedeutsam die – so Bernd Jentzsch und Klaus-Dieter Sommer – „fast schon magische Kraft, die er den Gegenständen verleiht“, die etwa als „stumme Zeugen der Leidenschaft“ eine Rolle spielen wie in den Lie¬besgedichten der „Kleinen Suite“: die Sandale der Geliebten, der Aschenbecher, der hölzerne Stuhl; „in den einfachen Dingen [...] werden innere Zusammenhänge, die Wurzeln der Welt sichtbar“.
Bei einem griechischen Dichter der Neuzeit ist mit Antike¬rezeption zu rechnen. Auch im Werk von Ritsos existieren zahlreiche antike Gestalten und Vorgänge (Helena, Tiresias, Philoktet, Orest, Iphigenie, Ismene, Phädra; die Schleifung von Milos); im „Ungeheuren Meisterwerk“ erinnert sich Ritsos des „herrlichen daktylischen Hexameters Homers“. Natürlich gibt es bei ihm keine Antikerezeption um der Antikerezeption willen, er hat nicht die Absicht – um es mit einer Formulierung Brechts zu sagen -, „philologische Interessen zu bedienen“, aber das hat ohnehin noch nie ein Dichter von Format getan.
Um von der Fülle der von Ritsos benutzten Gestaltungsprinzipien wenigstens noch zwei Eindrücke zu vermitteln: Satire findet sich ebenso wie Humor. Satire z. B. in “Die Nachbarschaften der Welt” (1951, publiziert 1957), dem Volksepos der griechischen Linken, einer Überschau über Besetzung, Widerstand, Befreiung, Bürgerkrieg. Ein Auszug aus der ersten deutschen Übersetzung dieses Werkes von Erasmus Schö¬fer erschien in „Sinn und Form“ 1/1985. Hier ein Abschnitt des 14. Kapitels:

Hört wie dieser Wind aus den Wäldern
pfeift in die Städte der Zukunft!
Er ist groß dieser Wind
fröhlich ist er
und rauh dieser Wind.
Und Mr. Churchill friert
und Mr. Truman friert
... Bedauert ihn doch, ihr Schwarzen, den Mr. Truman
den Mr. Truman den seine Atombombe nicht wärmt
den Mr. Truman, der euch so bedauert, ihr Schwarzen,
den Mr. Truman, der Korea so sehr bedauert
und so sehr auch Griechenland, bedauert ihn, Gefangene von Makronisos,
bedauert ihn, Eingesperrte, Erhängte, Hingerichtete

Eine humoristische, gelöste Erzählweise ist vor allem in Ritsos’ letzten Lebensjahren stär¬ker hervorgetreten, etwa in der „Ariost“-Erzählung (sie wurde 1982 veröffentlicht, ist aber wesentlich früher entstanden): „Gegenüber, das erleuchtete Museum. Durch das große Fenster das steinerne Haupt von Zeus ohne Bart. Ob ein Friseur für Statuen existiert?“, oder in „Das ungeheure Meisterwerk“ von 1977: „Ich küsste sie am Ohr genau an jener Stelle, an der, wenn sie ihn besäße, ein rubinbesetzter Ohrring hinge...“
In seiner Heimat offiziell an¬erkannt war Ritsos spätestens mit der Verleihung des Großen Staatspreises für Dichtung, Mitte der 50er Jahre, auf die „Mondscheinsonate“ hin. Dieses Gedicht, rasch in 20 Sprachen übertragen, von bereits ‚Arrivierten’ wie Aragon enthusiastisch begrüßt, trug in starkem Maße dazu bei, Ritsos im Ausland bekannt zu machen. Heute liegen Werke von ihm in mehrere Dutzend Sprachen übersetzt vor. Besonders lebhaft war die Ritsos-Rezeption in Frankreich, zu dem Griechenland über lange Jahre hinweg enge kulturelle Beziehungen hatte: Viele Griechen, zumal Künstler und Schriftsteller, lebten zeitweilig in Frankreich und ließen sich von der französischen Kultur beeinflussen – ich sprach schon vom Symbolismus und vom Surrealismus -; auch der Lyriker Elytis war, durch Übersetzungen und literaturkritische Arbeiten über ihn, in Frankreich viel eher bekannt als im deutschsprachigen Raum. Im Zusammenhang mit Ritsos fielen hier schon die Namen Aragon, Eluard und Picasso (er lebte seit 1903 in Frankreich). Ein Werk von Ritsos erschien überhaupt zuerst in Frankreich: „Steine Wiederholungen Gitter“, 1971 griechisch/ französisch in Paris, mit Vorwort von Aragon; in Griechenland konnte es erst 1972, in der Phase einer gewissen Liberalisierung, gedruckt werden. Pablo Neruda, Botschafter seines Landes in Paris, schrieb „seinem Bruder Jannis Ritsos“ ein Geleitwort zur Reclamanthologie „Diese Landschaft ist hart wie das Schweigen“ (1972); schon 1973 hatte Ritsos Anlass, seinerseits „seinem Bruder Pablo Neruda“ ein Wort ins Grab nachzurufen. In Deutschland gab es zahlreiche Solidarisierungen mit Ritsos, zumal nach der ‚Machtergreifung’ der Junta (Günter Kunert, Jannis Ritsos nicht zu vergessen, 1968), aber auch schon vorher (Adolf Endler, Der griechische Dichter oder Schwielowsee 1958 [1960]). Für diesen wichtigen Vorgang verweise ich auf die Leipziger Promotionsschrift 1980 von Efstathia Kraidi: DDR-Literatur in der künstlerischen Auseinandersetzung mit der Geschichte Griechenlands seit der faschistischen Okkupation. Joachim Seyppel berichtete in seinem Buch „Hellas, Geburt einer Tyrannis“ (Westberlin 1968, teilweise identisch mit seinem „Grie¬chischen Mosaik“, Ostberlin 1970), wie er in Griechenland nach dem verhafteten Ritsos fragt. Ritsos-Gedichte schrieben in der Bundesrepublik beispielsweise Armin Kerker und Marga¬rete Hanssmann; im großen HAP-Grieshaber-Katalog von 1977 „Kato i diktatoria. Contra la Junta“ sind zahlreiche Ritsos-Gedichte zitiert. In der Schweiz solidarisierte sich Max Frisch mit Ritsos.
Die Beschäftigung mit dem Schaffen von Ritsos beginne im deutschsprachigen Raum erst all¬mählich, während es in Frankreich und anderswo schon bekannt sei, stellte Tzermias 1969 in der „Neuen Zürcher Zeitung“ fest. (Warum das so war, sagte ich bereits.) Es ist richtig, wenn damals in der Schweizer Zeitschrift „Propyläen“ ein Kritiker darauf hinwies, dass an moderner griechischer Literatur in der Bundesrepublik der 50er/60er Jahre fast nur die bedeutenden, aber eben etwas esoterischen Dichter Kavafis und Seferis eine Rolle spielten, allenfalls noch Kazantzakis, nach dem Welterfolg seines „Sorbas“ (der aber auch der Erfolg der Verfilmung mit Anthony Quinn in der Titelrolle und mit der Musik von Theodorakis war). Noch Brecht (†1956) nahm offensichtlich keine Notiz von seinem griechischen Gesinnungsgenossen. Selbst in dem Sammelband „Internationale Literatur des sozialistischen Realismus 1917-1945“ (Berlin, Weimar 1978) wurde Ritsos, wurde die ganze griechische linke Literatur im Unterschied zu derjenigen anderer nichtsozialistischer Länder überhaupt nicht erwähnt. Die erste deutschsprachige Ritsos-Auswahl in Buchform erschien schließlich erst 1968 in Westberlin. Wenn seinerzeit im Zusammenhang mit der Ritsos-Rezeption jemand sagte: „Wir kümmern uns wenig um Tradition und Eigenart der Poesie Griechenlands, obwohl wir es gern besuchen“, so mag das damals für die Bundesrepublik gegolten haben; in der DDR waren Griechenlandreisen bis zur Wende fast unmöglich. Die erste Ritsos-Auswahlübersetzung erschien dort zwar erst 1970 („Die Wurzeln der Welt“), doch wurden von 1951 an wiederholt einzelne Gedichte in Übersetzung in Zeitschriften wie „Sinn und Form“ und in Anthologien gedruckt. An Ritsos gleichgesinnten, gleich bedeutenden Dichtern sind in Ostdeutschland vor Ritsos Aragon und Neruda heimisch geworden; allerdings ist das Französische und selbst das Spanische keine solche Sprachbarriere wie das Neugriechische. Seit 1979 wurden immer wieder Ritsos-Werke deutsch in Buchform verlegt (einige nannte ich), darunter mehrere bibliophile Ausgaben, so 1987 vom „Ungeheuren Meisterwerk“ mit einer Originalgrafik von Ritsos. Ritsos-Pflege fand in vielfältigen Formen statt: Da gab es Aufführungen vertonter Ritsos-Gedichte beim 11. Festival des Politischen Liedes (1981) und bei den Dresdner Musikfestspie¬len 1984, da gab es den TV-Dokumentarfilm „Sag Himmel auch wenn keiner ist“ (1984) und Rundfunksendungen. Im Mai 1984 lasen im Gohliser Schlöss¬chen Leipzig Ritsos-Übersetzer und –Nachdichter aus seinem Oeuvre; anschließend bedankte sich der Dichter mit einer temperament- und geistvollen Rede über Poesie und Literaturwissenschaft sowie mit der Rezitation seines Gedichtes „Irini“ („Frieden“) in griechischer Sprache; dies tat er mit einem Nuancenreichtum, um den ihn mancher berufsmäßige Sprecher beneiden konnte.
Einen Tag später wurde Ritsos im Alten Senatssaal der Universität Leipzig in Anwesenheit des griechischen Botschafters mit der Ehrendoktorwürde der Leipziger Alma mater ausgezeichnet, „in Würdigung seines reichen lyrischen, epischen und dramatischen Schaffens, das einen gewichtigen Beitrag zur Weltliteratur darstellt; in Anerkennung seiner unbeugsamen politischen Haltung auch in dunkelsten Zeiten der Geschichte; in Hervorhebung seiner vielfältigen Aktivitäten im Dienste der Freundschaft zwischen den Völkern“. (Leipzig war, nach Saloniki und Birmingham, das dritte Neogräzistik-Zentrum, das Ritsos zum Dr. h. c. machte. Die Umstände, unter denen die Ehrung zustande kam, waren kurios. Unter anderem schrieb ich in dieser Angelegenheit an Politbüromitglied Hermann Axen einen Brief, der nie beantwortet wurde, aber offensichtlich für den Erfolg meiner jahrelangen Bemühungen entscheidend war. Darauf kann ich hier nicht eingehen.) Auch hier stattete der Dichter seinen Dank mit seiner Ansprache ab, die mit denselben Epitheta charakterisiert werden kann wie die im Gohliser Schlösschen. Ich zitiere Auszüge:
„Heute ist ein großer Tag für mich. Und es ist ein eigenartiger Zufall: Die Universität Leipzig wurde 1409 gegründet, und ich wurde 1909 geboren, das heißt, 500 Jahre nach der Gründung der Universität ist der Tag meiner Geburt. Und in diesem Jahr, da Sie den 575. Jahrestag der Gründung der Leipziger Universität feiern, feiere ich meinen 75. Geburtstag, das heißt, ich bin in gewisser Weise ein Altersgenosse der Leipziger Universität, nur eben 500 Jahre jünger. Wenn wir aber die griechische Tradition dazurechnen, die, ob ich will oder nicht, nicht nur in meinem Empfinden, sondern auch in meinen Adern kreist, kann ich sagen, dass ich zwei bis drei Jahrtausende älter bin als die Universität Leipzig. Ich würde Ihnen gern noch vieles sagen. Aber eine Rede, selbst die kürzeste, wird durch eine Übersetzung doppelt so lang. Und in diesem Fall trifft die Verstimmung des Publikums sowohl den Redner als auch den unschuldigen, bedauernswerten Übersetzer. So werde ich Ihnen, um Sie nicht noch mehr zu ermüden, keine Rede über die Dichtung halten. Ich schließe, indem ich meine große innere Bewegung über die große Ehre zum Ausdruck bringe, die Sie mir durch die Verleihung der Ehrendoktorwürde der großen Universität Leipzig erwiesen haben. Vergessen wir nicht, dass an dieser Universität ein Lessing, ein Leibniz, ein großer, ein sehr großer Goethe studiert haben.
Den Titel eines Ehrendoktors haben hier wirklich große Dichter erhalten wie mein Freund Pablo Neruda, und ich betrachte es als große Ehre, dass in der Liste der Ehrendoktoren Ihrer Universität auch mein Name stehen wird.“
Eine Begegnung mit Ritsos hatte ich außer in Leipzig auch in Athen. Dort besuchte ich ihn in seiner Wohnung im Bezirk Ajos Konstantinos (keinem Nobelviertel), im vierten Stockwerk; gegen¬über einer Schule mit lärmenden Kindern im Hof. Ritsos empfing mich in der ‚offiziellen’ Wohnung für Besucher: Wände und Fußboden fast gänzlich bedeckt mit Ritsos-Werken im Original und in Übersetzung (es gibt Übertragungen in einige Dutzend Sprachen); mit Gemälden und Fotos von Ritsos und seiner Frau; mit den bemalten Steinen, von denen ich sprach – ein Museum, kaum Platz zum Treten, kaum freie Sitzgelegenheiten. Zu literarischer Produktion, ließ ich mir sagen, pflegte sich Ritsos in eine Zweitwohnung, im gleichen Haus, zurückzuziehen. Ritsos hatte mich erwartet. So unterbrach er, als ich kam, die Arbeit, mit der er gerade befasst war: zusammen mit einer Mitarbeiterin für das Cover einer ausländischen Edition ein passendes Ritsos-Foto herauszusuchen. (Auf Selbstinszenierung hat sich der Meister vortrefflich verstanden; das wurde bei vielen Gelegenheiten deutlich.) Dafür klingelte pausenlos das Telefon, und mehrfach waren es Anrufe, denen Ritsos sich stellen musste, so, als die Witwe seines eben verstor¬benen Freundes Manos Katrakis Trost und Rat suchte ...
Ritsos sind viele gewichtige Ehrungen innerhalb und außer¬halb seiner Heimat zuteil geworden. Den höchsten internationalen Literaturpreis, den Nobelpreis erhielt er nicht; im Vergleich zu den griechischen Dichtern Seferis und Elytis, die 1963 bzw. 1979 mit ihm ausgezeichnet wurden, war er dem Preiskomitee wohl zu weit links. Immerhin hat dieses Gremium den Preis 1971 dem ebenfalls sehr weit links stehenden Pablo Neruda zuerkannt, der, als er ihn empfing, äußerte, er kenne jemanden, der ein größeres Recht auf diesen Preis habe: Jannis Ritsos ... Nicht nach Verdienst bekannt ist Ritsos’ noble Reaktion auf die Verleihung jenes Preises an Elytis. Er gratulierte ihm mit den schönen Worten: „Die Verleihung des Nobelpreises an unseren großen Dichter Elytis ist eine Ehre vor allem für den Nobelpreis. Elytis selbst hat schon die bedeutendsten Preise bekommen: weiteste Anerkennung und die Liebe des ganzen griechischen Volkes.“ Dies ist eines der denkwürdigsten documents humains. Auch Jannis Ritsos genießt die „weiteste Anerkennung und Liebe“ des griechischen Volkes, und nicht nur des griechischen.


*Aus Raumgründen gekürzte, doch an einigen Stellen ergänzte Fassung der in „Phasis“ 5-6 (Tbilisi 2003) veröffentlichten Laudatio auf Ritsos. Der Vortragscharakter ist beibehalten; auf Anmerkungen wurde verzichtet. Nachdrücklich hingewiesen sei auf die ausführliche Würdigung von Asteris Kutulas in dem von ihm herausgegebenen Band: J. R., Deformationen, Köln 1996. Dort sind auch die griechischen Erstausgaben der Ritsos-Bücher verzeichnet sowie die Erstausgaben der in Buchform erschienenen deutschen Übersetzungen, die auf Schallplatte und CD vorliegenden Vertonungen von Ritsos-Werken sowie Aufführungen seiner Dra¬men. (Damals konnte noch nicht genannt sein: J.R., „Die Umkehr bilder des Schweigens. Gedichte. Griechisch und deutsch“, über¬tragen und mit einem Nachwort versehen von Klaus-Peter Wede¬kind, Frank¬furt 2001; das grie¬chische Original erschien postum 1991 in Athen.)