Jürgen Werner
1971 konnte man in „Les Lettres Françaises“ lesen: „Le
plus grand poète vivant s’appelle Yannis Ritsos.“ Der Satz
stammte von keinem geringeren als Louis Aragon. Dieser „größte
lebende Dichter“, so hört man, ist gegen das Biographische. Aber
Dichtung erwächst aus dem Leben; für Stephan Hermlin ist die Vita
eines Autors die Probe auf die Erwartung, es mit einem wesentlichen Dichter
zu tun zu haben, und das ist für ihn einer, der über eine exemplarische
„innere Geschichte“ verfügt, bei dem die „Leiden der
Zeit, die Befürchtungen, Wünsche und Auseinandersetzun¬gen der
Gesellschaft“ eins geworden sind mit seinem Ich. Um noch einmal Aragon
zu zitieren: Jannis Ritsos „ist das ganze Leben seines Volkes, seine Schmerzen,
sein Gesang.“
Ritsos wird am 1. 5. 1909 in Mo¬nem¬vasia (Peloponnes) geboren, als
viertes Kind eines Gutsbe¬sitzers. Nach der Grundschule besucht er 1921-25
das Gymnasium in Gythion. Kindheit und Jugend sind überschattet von der
Spielleidenschaft des Vaters, die zum finanziellen Ruin der Familie führt
– der Vater stirbt später in geistiger Umnachtung -, und von der
in der Familie grassierenden Tbc. An ihr sterben 1921 die Mutter und der Bruder,
und Jannis wird selbst jahrelang unter dieser Krankheit zu leiden haben. Er
spricht gelegentlich von der „Last kranker Geschlechter“ und davon,
dass er „Kind ohne Kindheit“ gewesen sei. Geld für ein Studium
ist nicht da. „Ich studierte Geschichte der Vergangenheit und der Zukunft
an der zeitge¬nössischen Fakultät des Kampfes“, sagt er
1975 in dem Ge¬dicht „Angaben zur Identität“. Er geht nach
Athen und schlägt sich als Büroangestellter durch. (Beeindruckend
die kalligraphische Klarheit seines Schriftbildes, zugänglich in der zweisprachigen
Ausgabe „Kleine Suite in rotem Dur“, Berlin 1982.) Selbst eine solche
Existenz ist schwierig genug, ist doch Griechenland und zumal Athen überfüllt
mit Arbeitslosen: Ein expansionistischer Krieg Griechenlands gegen den „kranken
Mann am Bosporus“ – ein Krieg, der die Megali Idea, die „Große
Idee“, den Traum von einem neuzeitlichen griechischen Großreich
in byzantinischen Dimensionen mit Einschluss Anatoliens realisieren sollte –
hatte 1922 mit der „Kleinasiatischen Katastrophe“ geendet; die meisten
Griechen, die bis dahin in uraltem griechischem Siedlungsgebiet an der Ostküste
der Ägäis und der Südküste des Schwarzen Meeres gelebt hatten,
kamen jetzt, soweit sie nicht niedergemetzelt worden waren, nach Griechenland,
das, noch weitgehend Agrarland, vergleichsweise wenige Arbeitsmöglichkeiten
bot. 1926, kurz nachdem Ritsos nach Athen gekommen ist, nötigt ihn die
Tbc, in seinen Heimatort zurückzugehen. Jahre hindurch befindet er sich
überwiegend in Sanatorien. In den 30er Jahren arbeitet er in den verschiedensten
Berufen, un¬ter anderem als Schauspieler, Tänzer, Regisseur, Korrektor,
Lektor.
Ritsos beginnt, sich mit dem Marxismus zu beschäftigen. Er liest Varnalis,
den ersten kommunistischen Dichter Griechenlands, und Majakowski, dem er 1953
ein Gedicht widmen wird („Guten Tag, Wladimir Majakowski“) und der
für ihn „der erste Dichter unseres Jahrhunderts“ ist. 1931
schließt er sich der kommunistischen Bewegung an, der er zeit seines Lebens
verbunden bleibt. Nach dem Überfall Italiens und Deutschlands auf seine
Heimat (1940/41) gehört er der Antistasi, der griechischen Résistance,
an. Ab 1944 kämpft er gegen das einheimische Establishment (Krone Militär,
Großbürgertum), das mit Hilfe der britischen ‚Befreier’
für eine gewisse Zeit das Rad der Geschichte zurückzudrehen vermag.
1948-52 befindet er sich in KZs wie Makronisos, nicht weit entfernt vom Stolz
Griechenlands, der Akropolis; weltweite Proteste – von Picasso, Aragon,
Elsa Triolet, Eluard, Sartre, Simone de Beauvoir, Malraux, Ehren¬burg, Simonow,
Hikmet, Amado – kämpfen ihn frei, ohne dass er den berüchtigten
Loya¬litätseid leistet. Es folgen Jahre des ungehinderten Schaffens,
der Reisen, Jahre auch der offiziellen Anerkennung. Als sich 1967 eine Militärdiktatur
etabliert, ist Ritsos unter den ersten, die verhaftet und deportiert werden.
Dank internationalen Solidaritätsaktionen wird er 1968 entlassen. Danach
steht er auf Samos unter Hausarrest. Normale Lebens- und Schaffensbedingungen
gibt es für ihn erst 1974, als die Junta mit ihrem Latein bzw. Griechisch
am Ende ist.
Ritsos schreibt nicht nur, er huldigt auch anderen Künsten, etwa in seinen
Steinzeichnungen von Aufenthalten in griechischen KZs; eindrucksvolle Proben,
von Manfred Küchler meisterhaft fotografiert, enthält der schon genannte
Band „Kleine Suite in rotem Dur“. – Gedruckt werden Gedichte
von ihm ab 1927, das erste am 1. Mai, an seinem 18. Geburtstag: zarte, pessimistische
Gebilde aus Ritsos’‚Zauberberg’, der allerdings mit dem aristokratischen
von Thomas Mann wenig gemein hat.
Der erste Gedicht-Band, 1934, heißt „Traktor“. In ihm besingt
Ritsos den sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion, erhebt die Forderung nach
sozialer Gerechtigkeit. Die griechische Literaturszene, der damals noch „politisch
Lied ein garstig Lied“ ist wie den Spießern in Goethes „Faust“
– „technisch Lied“ ebenfalls -, rea¬giert ablehnend: Wie
kann ein griechischer Dichter über den Sozialismus, wie ein Lyriker über
Traktoren schreiben? Später hält Ritsos dagegen: „Ich war ein
Kämpfer, bin es noch, und werde es immer sein.“
1936 werden in Saloniki de¬monstrierende Arbeiter ermordet. Ritsos schreibt
den „Epitaphios“, „Trauergesang“, in dem eine Mutter
ihren toten Sohn beweint, dann aber von der Klage zur Anklage übergeht,
zu einem revolutionären Aufschrei gegen die Ausbeuter und Unterdrücker.
Neben ihren Zorn, neben ihre Zärtlichkeit gegenüber dem geliebten
Sohn und seinen Genossen, die ihre Söhne sein werden, tritt die Zuversicht
dieser unbeugsamen Frau. – Der „Epitaphios“ erscheint in 10000
Exemplaren, einer für damalige Verhältnisse sensationellen Auflage.
Der Diktator Metaxas, 1936 zur Macht gekommen, setzt das Werk auf den Index,
lässt es verbrennen. Symptomatisch für die Verhältnisse in Griechenland:
Der „Epitaphios“ kann erst nach 20 Jahren wieder erscheinen, und
schon 1967 wird er, von den Obristen, erneut verboten. – Später komponiert
Theodorakis Teile des „Epitaphios“ (und andere Ritsos-Dichtungen).
Diese Vertonungen sind umso wichtiger, als Griechenland, aus verschiedenen Gründen,
damals noch weit we¬niger Lesegesellschaft, Literaturgesellschaft als heute
ist. Teuer gedruckte Lyrik in meist niedriger Auflage ist zu jeder Zeit in breiten
Schichten relativ wenig bekannt; allerdings hat sie die Chance, im besten Sinne
des Wortes volkstümlich zu werden, wenn sie von hervorragenden Komponisten
wie Theodorakis vertont und von hervorragenden Interpreten wie Maria Farandouri
dargeboten wird. In Ländern, die über Jahrzehnte hinweg vergleichbare
ökonomische und politische Bedingungen hatten, Spanien z. B., war es offensichtlich
ähnlich. Gedichte müssen singbar sein, hat Brecht gesagt.
Im „Epitaphios“ verwendet Ritsos, wie in seinen früheren Ge¬dichten,
den traditionellen, vom Volkslied her vertrauten Fünfzehnsilbler, paarweise
gereimt, mit Anlehnung besonders an das Miroloji, das Klagelied. Schon mit zwölf
Jahren hat er den Fünfzehnsilbler mühelos gehandhabt, mündlich
wie schriftlich. 1937 veröffentlicht er „Das Lied meiner Schwester“.
Es ist seiner psychisch kranken Lieblingsschwester gewidmet. Das „Lied“
markiert einen wichtigen Einschnitt in Ritsos’ Schaffen: Er schreibt jetzt
verhältnismäßig kurze Verse in freien Rhythmen, ohne Reime.
Aus der 1954 publizierten „Prüfung“ geht hervor, dass sich
Ritsos schon 1935 mit den freien Rhythmen beschäftigt hat, ebenso wie andere
griechische Dichter. – Der Band wird von Kostis Palamas, dem ‚Patriarchen’
der griechischen Dichtung, enthusiastisch begrüßt. Auf einen der
früheren Berufe von Ritsos anspielend schreibt er: „Die griechische
Dichtung hat zum ersten Mal einen so kräftigen und mutigen Tänzer
gefunden ... wir treten beiseite, um dich vorbeizulassen.“
In den Werken der nächsten Jahre bemüht sich Ritsos, die Schatten
der Vergangenheit hinter sich zu lassen, etwa in der „Früh¬lingssinfonie“,
in „warmen Tönen einer Euphorie im Glück der Liebe“, wie
es die Übersetzerin I. Rosenthal-Kamarinea formuliert:
Du schreitest
in meinen verstaubten Räu¬men einher
in einem weiten Frühlings¬kleid,
das nach grünen Blättern duftet,
nach frisch gewaschenem Himmel
und nach Möwenflügeln
über einem morgendlichen Meer.
Sieh dir die Fotos an
- die verstorbene Mutter,
der verstorbene Bruder
und meine blasse Schwester
mit den mondähnlichen Locken
und mit einem feinen Lächeln,
das auf ihrem Gesicht hängt
wie ein Käfig mit Kana¬rienvögeln,
der in einem ärmlichen Haus hängt,
in dem alle gestorben sind.
Wo ist ein Lastträger,
der alle diese Möbel
in den Keller brächte?
Gehen wir in die Felder,
um den Mohn und die Sonne
und das frische Gras
wie Ringe an den Fingern zu tragen.
Partien aus der „Frühlings¬sinfonie“ waren zusammen mit
anderen Texten 1984 in Dresden im Rahmen der 7. Sinfonie von Theodorakis zu
hören.
Die Gedichte der darauf folgenden Schaffensperiode reflektierten die italienisch-deutsche
Besetzung (1940-44) und den Bürgerkrieg (1944-49). In all diesen Jahren,
unter schwersten Bedingungen, ist Ritsos produktiv wie kein anderer griechischer
Schriftsteller, Kazantzakis ausgenommen. Der Schauspieler Manos Katrakis hat
geschildert, wie sein Freund Ritsos in Makronisos oft vom frühen Morgen
an ge¬schrieben (und gezeichnet) hat, ohne an Essen und Trinken zu denken,
und unter welchen Um¬ständen! Dazu Ritsos selbst in „Herakles
und wir“:
Und wenn euch unsere Verse
eines Tages ungeschickt erscheinen, denkt nur daran, dass sie
geschrieben wurden
unter den Augen der Wächter und mit der Lanze immer in unserer Seite.
(Übersetzung: Armin Kerker)
Bei all dem hat Ritsos eine unerschütterliche Hoffnung auf ein besseres
Morgen. Diese Hoffnung bringt beispielsweise das 1942 geschriebene, 1961 veröffentlichte
Buch „Das letzte Jahr¬hundert vor dem Menschen“ zum Ausdruck.
1945-47 schreibt Ritsos eines seiner berühmtesten Gedichte, „Romiosini“,
„Griechentum“, sein Hohelied auf sein Land und sein Volk, gleichsam
einen seiner – um es mit einem Hölderlin-Titel zu sagen – „Vaterländischen
Gesänge“, ungeachtet allen mediterranen Kolorits von ganz anderem
Charakter, als es die sonst damals in Griechenland verbreitete Ägäis-Poesie
hat. Hieß es etwa bei Jorgos Seferis, einem der bedeutendsten griechischen
Dichter des 20. Jhs., in „Mythos Geschichte“ (1935):
Unser Land ist umschlossen, nichts als Berge,
die ein niedriger Himmel überdacht, Tag und Nacht,
wir haben keine Flüsse, auch keine Brunnen, keine Quellen,
nur wenige Zisternen, und auch diese leer
- Verse, „deren Melancholie abstrakt bleibt“, wie ihr Übersetzer
Armin Kerker sagt, so heißt es in Ritsos’ „Romiosini“:
Diese Bäume dulden einen geringeren Himmel nicht,
diese Steine verweigern sich dem fremden Schritt,
diese Gesichter können nur unter der Sonne sein,
diese Herzen schlagen nicht, außer im Recht.
Diese Landschaft ist hart wie das Schweigen,
sie presst in ihrem Schoß das heiße Gestein
[...] Es gibt kein Wasser.
Alle dürsten [...]
Ihre Hand klebt am Gewehr [...]
(Übersetzung: Thomas Nikolaou)
Ritsos besingt in diesem Gedicht (die Anfangszeile der zweiten Strophe hat
der Reclam-Anthologie neugriechischer Lyrik von 1972 den Namen gegeben) das
Griechenland der Beherrschten, der Unterdrückten, der Verfolgten. „Romiosini“,
in Teilen von Theodorakis vertont, begeistert 1981 zum 11. Festival des Politischen
Liedes in Berlin Tausende, ebenso wie die Makro¬ni¬sos-Kantate (nach
Texten aus „Steinerne Zeit“, 1957) in der Vertonung von Mikrutsikos.
Von der Ägäis-Poesie anderer griechischer Dichter, die ohne gesellschaftlichen
Bezug ist, distanziert sich Ritsos auch in „A.B.C.“ (die drei Buchstaben
bezeichnen Verbannten-Bataillone auf Makronisos):
[...] Und das Meer der Ägäis war blau wie immer,
sehr blau, nur blau.
Ach ja, wir sprachen einmal von der Ägäis-Poesie,
von der nackten Brust der Nixe, auf die ein Anker gestickt war,
vom Licht des Meeres, das Gardinen für die Möwen häkelt. –
300 Ermordete.
Ja, wir sprachen von der Ägäis-Poesie:
Der Krebs träumt auf nassen Felsen
im Sonnenuntergang
wie eine kleine Bronzestatue im Ozean. –
600 wurden wahnsinnig [...]
(Übersetzung: Vagelis Tsakiridis)
Zu den besonders bekannt gewordenen Gedichten der 50er Jahre gehört „Der
Mann mit der Nelke“, 1952 dem im gleichen Jahr ermordeten Arbeiterführer
Nikos Belojannis gewidmet, der bei der Urteilsverkündung eine rote Nelke
in der Hand hatte. So auch auf dem Porträt, das Picasso geschaffen hat;
es ist auf dem Umschlag der schon erwähnten Anthologie „Diese Landschaft
ist hart wie das Schweigen“ wiedergegeben. – 1956 erscheint die
„Mondscheinsonate“, die erste in einer langen Reihe monologischer
Dichtungen, nachzulesen z. B. in der Übersetzung von Recha Rothschild in
„Sinn und Form“ 9 (1957), mit einer Vorbemerkung von Aragon. Ritsos
zeigt darin, dass die alte Welt zum Untergang verurteilt ist; dass in ihr zwar
der Wunsch, nicht aber die Fähigkeit existiert, etwas zu verändern.
Das Gedicht wird in kürzester Zeit in 20 Sprachen übersetzt. Die griechische
Regierung kann nicht umhin, Ritsos mit dem Großen Staats¬preis für
Dichtung auszu¬zeichnen.
1969, in der Zeit der Junta, aus dem KZ entlassen, aber unter Hausarrest, schreibt
Ritsos „Milos geschleift“. Das Gedicht erscheint 1971, in der Zeit
einer gewissen Liberalisierung, in den „Nea Kimena“, den „Neuen
Texten“, einer Anthologie mit mehr oder weniger gegen die Obristen gerichteter
Tendenz. (Näheres dazu in der Leipziger Promotionsschrift 1980 von Ursula
Novotny: Die kulturpolitische Lage in Griechenland in der Zeit der Junta-Herrschaft
[1967-1974] unter besonderer Berücksichtigung der literarischen Situation.)
In „Milos geschleift“ erzählen drei alte Frauen von der barbarischen
Behandlung der Insel Melos, neugriechisch Milos (am bekanntesten unter dem italienischen
Namen Milo: Venus von Milo), deren Gemeinwesen im 5. Jh. v. Chr. athenischer
Aggression die Stirn bietet, schweren Repressalien ausgesetzt ist, schließlich
aber neu zu existieren beginnt – ein Sinnbild der Unbezwingbarkeit antidiktatorischen
Widerstands. Dieses Gedicht hat 1979 einer bibliophilen Auswahl von Ritsos-Werken
im Reclam-Verlag (mit einer Radierung und Federzeichnungen von Giacomo Manzù)
den Titel gegeben.
Lange war uns Ritsos vor allem als politischer Lyriker vertraut. Doch hat er
besonders intensiv etwa seit 1980 auch weiblicher Schönheit und körperlicher
Liebe gehuldigt, so in dem Zyklus „Erotika“ (deutsch: Berlin 1983);
vorher erschien in Übersetzung bereits ein Teil dieses Zyklus, die „Kleine
Suite in rotem Dur“, wobei Rot hier Symbolfarbe des Eros ist:
Schlaf an meiner Brust / sagtest du / und ich durchwachte / die Nacht an deiner
Brust
Meine Hände erinnern sich deiner
Sie zieht sich an zieht sich aus / Feuer ihre Kleider / Feuer ihre Nacktheit
- schöne Gedichte auf intimste partnerschaftliche Augenblicke, auf die
enthusiasmierende Wirkung scheuer Berührung ebenso wie stürmischer
Umarmung.
An die hundert längere Ge¬dichte bzw. Gedichtzyklen, Dramen, Essays
(so über Block, Majakowski, Hikmet, Eluard), Nachdichtungen liegen vor;
diese schuf er anhand französischer Übersetzungen (so bei Majakowski
und Hikmet) bzw. nach durch Dritte gefertigten griechischen Interlinearversionen
– schon dies ein kaum noch überschaubares Oeuvre, geschuldet der
nicht nachlassenden Produktivität dieses Dichters, der sich überdies
immer neuen Genres zuwandte: der Erzählung, dem Roman. 1955 schreibt Ritsos
an¬lässlich der Geburt seiner Tochter „Der Morgenstern. Kleine
Enzyklopädie der Diminutive für meine Tochter Eri“. Ich gäbe
gern eine Probe, aber die im Griechischen meist stark emotional getönten
Verkleinerungs- oder „Schmeichelwörter“ sind im Deutschen viel
seltener: „Töchterchen“, „Gärtchen“ sind in
unserer Sprache gebräuchlich, aber nicht Diminutive von „Lilie“,
„Schlaf“ usw. – Ritsos’ Werk wäre noch umfangreicher,
wären nicht viele Manuskripte unter dem Zugiff der Asfalia, der Sicherheits¬polizei,
verloren gegangen.
Ritsos ist auf vielfältige Weise bemüht, Realität realistisch
zu gestalten, Zusammenhänge deut¬lich zu machen: zu den „Wurzeln
der Welt“ vorzustoßen (nach dem gleichnamigen Gedicht heißt
die 1970 in Berlin erschienene Ritsos-Auswahl). In dem Gedicht „Hypothek“
(1969) sagt er: „Ich schreibe einen Vers, ich schreibe die Welt; ich existiere,
die Welt existiert“. Für Ritsos muss und kann die Welt mit dichterischen
Mitteln verändert werden. Vertrat Seferis die Ansicht „Sprechen nützt
nichts; die Meinung der Mächtigen, wer kann sie schon umstimmen? Wer wird
gehört werden?“, so Ritsos: „Viele Gedichte sind wie Waffen“
(„Die Verpflichtung der Dichter“, 1958). Ferdinand Freiligrath hatte
1841 verkündet: „Der Dichter steht auf einer höhern Warte als
auf den Zinnen der Partei.“ Ritsos hat sich nie gescheut, als Dichter
auf den Zinnen der Partei zu stehen, der er seit 1931 angehörte. Vom Personenkult,
dem Ritsos mit dem 1953 Stalin gewidmeten Gedicht „Mausoleum“ huldigte
(Vergleichbares taten viele andere ehrenwerte Dichter wie etwa Hermlin), distanzierte
er sich einige Jahre später mit dem Elektra-Monolog „Unter dem Schatten
des Berges“. (Für diesen Hinweis danke ich Asteris Kutulas.) Die
gelegentlich aufgeworfene Frage, welche Haltung er Orwells „1984“
gegenüber eingenommen hat, lässt sich (noch?) nicht beantworten; wir
können nicht einmal sicher sagen, ob er das Buch gele¬sen hat. (Wenn
ja, dann in griechischer oder französischer Übersetzung; das Französische
war die ihm vertraute Fremdsprache.) Ausdrücklich festgehalten sei, dass
er in seine linke Dichtung zumindest im letzten Viertel seines Lebens eine zunehmend
undogmatische Gesinnung ein¬gebracht hat: „Wir vergaßen nie
die Dialektik, wir umgingen nicht die unbeantwortbarsten Fragen“ („Das
ungeheure Meisterwerk“; Übersetzung: A. Kutulas). Manche der aphorismenartigen
„Monochorde“ (1979) des Kommunisten Ritsos, möglicherweise
im Hinblick auf die Situation in der Kommunistischen Partei Grie¬chenlands
bzw. überhaupt der kommunistischen Bewegung ab¬gefasst, hätten
in der DDR Be¬achtung finden sollen, wo Ritsos sehr bekannt und beliebt
war: „Einspuriger Weg führt nicht in die Zukunft“, „Dieser
Mensch ist heiser geworden – durch sein Schweigen“, „Sie wälzten
ihre Sünden auf andere ab und wurden so heilig“ (Übersetzung:
A. Kutulas). Überhaupt wich er keiner politischen, keiner ästhetischen
Diskussion aus. Im „Ungeheuren Meisterwerk“ spricht er vom „Beschluss
der illegalen Partei¬sitzung, wo die Genossen mit brüderlicher Sorge
die Beschwerde formulierten, dass meine neuen Gedichte von bestimmten metaphysischen
Tendenzen umrankt werden, und ich antwortete mit weit metaphysischeren Gedichten
eines weit tieferen Realismus, ungefähr wie der von Shdanow, aber auch
zusammen mit den verurteilten Katzen der Achmatova“. Shdanow war einer
der engstirnigsten sowjetischen Kulturpolitiker, die Achmatova wohl die bedeutendste
russische Dich¬terin, die in der UdSSR große Probleme hatte. Zur Formalismus-Debatte
äußerte sich Ritsos kritisch 1957 in „Die Brücke“.
Ritsos – er starb 1990 – war einer der wichtigsten Vertreter der
linken griechischen Literatur. In Griechenland anfangs offiziell totgeschwiegen
oder abgelehnt – im Unterschied etwa zu Seferis, der ebenfalls zuerst
in den 30er Jahren mit Gedichtbänden hervortrat -, war er in seiner Heimat
und außerhalb seit den 50er Jahren der mit Abstand bekannteste und anerkannteste
lebende griechische Dichter, erlangte er eine Bedeutung, „die selbst seine
ihm nicht gewogenen Kritiker anerkennen müssen“, wie Pavlos Tzermias
bereits 1969 in der „Neuen Zürcher Zeitung“ feststellte. Dabei
gab es eine Zeitlang die Tendenz, sein Werk zu ‚entschärfen’;
Armin Kerker polemisierte in einem Gedicht von 1973 dagegen:
Für Jannis Ritsos
Als sie es nicht mehr leugnen konnten,
dass da in Hellas
jemand war,
der seine Stimme erhob,
gemeinsam mit den Tabak¬arbeitern
aus Saloniki
die streikten und dafür erschos¬sen wurden,
dass da im fernen Griechen¬land
ein Dichter Worte fand
für unterdrückte Bauern
die sie auch verstanden;
als sie ihn also
selbst durch Folter
nicht zum Schweigen bringen
und trotz seiner aufwiegelnden Lieder
nicht verschweigen konnten,
entdeckten sie,
die ihn lieber tot als rot gesehen hätten,
in seinen Werken
„stille Altersreife“,
„schweres Leid“ und „tiefgeprüfte Trauer“,
„zögernde Hoffnung“ einer „noterfahrenen Weisheit“.
Es ist jetzt nötiger denn je,
ihn vor diesen zu schützen.
Die ganze griechische „(Literatur-)Generation von 1930“ –
Seferis, Embirikos (*1901), Elytis (*1911) und Ritsos – wurde inhaltlich
und gestalterisch stark von der übrigen zeitgenössischen europäischen
Lyrik beeinflusst, von Eluard etwa. Einige Jahrzehnte zuvor hatte Rimbaud, Hauptvertreter
des frühen Symbolismus, gesagt: „Il faut être absolument moderne.“
Davon ließen sich in den dreißiger Jahren auch die jungen griechischen
Dichter leiten; sie wurden vor allem vom Symbolismus bestimmt mit seinen explosiven,
überschäumenden Wortketten, kühnen Metaphern, Träumen. Ritsos
war nicht so extrem wie andere griechische Dichter, übernahm z. B. nicht
die „automatische Schreibweise“: das Verfahren, impulsiv, unreflektiert,
ästhetisch unverarbeitet alles niederzuschreiben, was einem in den Sinn
kommt. Zudem unterschied er sich von den anderen Dichtern seiner Generation
von Anfang an durch bewusste Hinwendung zu den Ideen der Oktoberrevolution und
zu der von der modernen Technik geprägten Welt. Unter seinen Vorbildern
nennt er Eluard, Aragon, Neruda, Garcia Lorca, Majakowski, Ehrenburg ... Gewiss,
obwohl Ritsos weniger modernistisch ist als andere Dichter seiner Generation:
Auch bei ihm ist nicht alles auf Anhieb verständlich, weshalb Linke Ritsos
vorwarfen, seinen Gedichte würden nicht von Arbeitern, Bauern und Fischern
gelesen, sondern von Intellektuellen. Zu diesem Thema sagte ich schon einiges,
vor allem zur Massenwirksamkeit vieler von Theodorakis vertonter Gedichte. (Sie
war wohl einer der Gründe dafür, dass die Junta 1967 jede Theodorakis-Musik
verbot.) Nicht immer leicht zu verstehen sind Ritsos-Texte zumal dort, wo kein
Kontext existiert, wie bei den „Monochorden“. In „Notwendige
Erklärung“ äußert er dazu: „Es gibt bestimmte Verse
– manchmal sogar ganze Gedichte -, von denen ich selbst nicht weiß,
was sie bedeuten. Was ich nicht weiß, erhält mich. Du hast recht
zu fragen. Aber frag mich nicht.“ (Übersetzung: Niki und Hans Eideneier).
– Trösten wir uns in solchen Fällen mit dem Bonmot des Sokrates
über Heraklits Schriften: Sie seien dunkel, aber aus der Vortrefflichkeit
dessen, was er, Sokrates, verstehe, schließe er auf die Vortrefflichkeit
auch dessen, was er nicht verstehe...
Bedeutsam die – so Bernd Jentzsch und Klaus-Dieter Sommer – „fast
schon magische Kraft, die er den Gegenständen verleiht“, die etwa
als „stumme Zeugen der Leidenschaft“ eine Rolle spielen wie in den
Lie¬besgedichten der „Kleinen Suite“: die Sandale der Geliebten,
der Aschenbecher, der hölzerne Stuhl; „in den einfachen Dingen [...]
werden innere Zusammenhänge, die Wurzeln der Welt sichtbar“.
Bei einem griechischen Dichter der Neuzeit ist mit Antike¬rezeption zu rechnen.
Auch im Werk von Ritsos existieren zahlreiche antike Gestalten und Vorgänge
(Helena, Tiresias, Philoktet, Orest, Iphigenie, Ismene, Phädra; die Schleifung
von Milos); im „Ungeheuren Meisterwerk“ erinnert sich Ritsos des
„herrlichen daktylischen Hexameters Homers“. Natürlich gibt
es bei ihm keine Antikerezeption um der Antikerezeption willen, er hat nicht
die Absicht – um es mit einer Formulierung Brechts zu sagen -, „philologische
Interessen zu bedienen“, aber das hat ohnehin noch nie ein Dichter von
Format getan.
Um von der Fülle der von Ritsos benutzten Gestaltungsprinzipien wenigstens
noch zwei Eindrücke zu vermitteln: Satire findet sich ebenso wie Humor.
Satire z. B. in “Die Nachbarschaften der Welt” (1951, publiziert
1957), dem Volksepos der griechischen Linken, einer Überschau über
Besetzung, Widerstand, Befreiung, Bürgerkrieg. Ein Auszug aus der ersten
deutschen Übersetzung dieses Werkes von Erasmus Schö¬fer erschien
in „Sinn und Form“ 1/1985. Hier ein Abschnitt des 14. Kapitels:
Hört wie dieser Wind aus den Wäldern
pfeift in die Städte der Zukunft!
Er ist groß dieser Wind
fröhlich ist er
und rauh dieser Wind.
Und Mr. Churchill friert
und Mr. Truman friert
... Bedauert ihn doch, ihr Schwarzen, den Mr. Truman
den Mr. Truman den seine Atombombe nicht wärmt
den Mr. Truman, der euch so bedauert, ihr Schwarzen,
den Mr. Truman, der Korea so sehr bedauert
und so sehr auch Griechenland, bedauert ihn, Gefangene von Makronisos,
bedauert ihn, Eingesperrte, Erhängte, Hingerichtete
Eine humoristische, gelöste Erzählweise ist vor allem in Ritsos’
letzten Lebensjahren stär¬ker hervorgetreten, etwa in der „Ariost“-Erzählung
(sie wurde 1982 veröffentlicht, ist aber wesentlich früher entstanden):
„Gegenüber, das erleuchtete Museum. Durch das große Fenster
das steinerne Haupt von Zeus ohne Bart. Ob ein Friseur für Statuen existiert?“,
oder in „Das ungeheure Meisterwerk“ von 1977: „Ich küsste
sie am Ohr genau an jener Stelle, an der, wenn sie ihn besäße, ein
rubinbesetzter Ohrring hinge...“
In seiner Heimat offiziell an¬erkannt war Ritsos spätestens mit der
Verleihung des Großen Staatspreises für Dichtung, Mitte der 50er
Jahre, auf die „Mondscheinsonate“ hin. Dieses Gedicht, rasch in
20 Sprachen übertragen, von bereits ‚Arrivierten’ wie Aragon
enthusiastisch begrüßt, trug in starkem Maße dazu bei, Ritsos
im Ausland bekannt zu machen. Heute liegen Werke von ihm in mehrere Dutzend
Sprachen übersetzt vor. Besonders lebhaft war die Ritsos-Rezeption in Frankreich,
zu dem Griechenland über lange Jahre hinweg enge kulturelle Beziehungen
hatte: Viele Griechen, zumal Künstler und Schriftsteller, lebten zeitweilig
in Frankreich und ließen sich von der französischen Kultur beeinflussen
– ich sprach schon vom Symbolismus und vom Surrealismus -; auch der Lyriker
Elytis war, durch Übersetzungen und literaturkritische Arbeiten über
ihn, in Frankreich viel eher bekannt als im deutschsprachigen Raum. Im Zusammenhang
mit Ritsos fielen hier schon die Namen Aragon, Eluard und Picasso (er lebte
seit 1903 in Frankreich). Ein Werk von Ritsos erschien überhaupt zuerst
in Frankreich: „Steine Wiederholungen Gitter“, 1971 griechisch/
französisch in Paris, mit Vorwort von Aragon; in Griechenland konnte es
erst 1972, in der Phase einer gewissen Liberalisierung, gedruckt werden. Pablo
Neruda, Botschafter seines Landes in Paris, schrieb „seinem Bruder Jannis
Ritsos“ ein Geleitwort zur Reclamanthologie „Diese Landschaft ist
hart wie das Schweigen“ (1972); schon 1973 hatte Ritsos Anlass, seinerseits
„seinem Bruder Pablo Neruda“ ein Wort ins Grab nachzurufen. In Deutschland
gab es zahlreiche Solidarisierungen mit Ritsos, zumal nach der ‚Machtergreifung’
der Junta (Günter Kunert, Jannis Ritsos nicht zu vergessen, 1968), aber
auch schon vorher (Adolf Endler, Der griechische Dichter oder Schwielowsee 1958
[1960]). Für diesen wichtigen Vorgang verweise ich auf die Leipziger Promotionsschrift
1980 von Efstathia Kraidi: DDR-Literatur in der künstlerischen Auseinandersetzung
mit der Geschichte Griechenlands seit der faschistischen Okkupation. Joachim
Seyppel berichtete in seinem Buch „Hellas, Geburt einer Tyrannis“
(Westberlin 1968, teilweise identisch mit seinem „Grie¬chischen Mosaik“,
Ostberlin 1970), wie er in Griechenland nach dem verhafteten Ritsos fragt. Ritsos-Gedichte
schrieben in der Bundesrepublik beispielsweise Armin Kerker und Marga¬rete
Hanssmann; im großen HAP-Grieshaber-Katalog von 1977 „Kato i diktatoria.
Contra la Junta“ sind zahlreiche Ritsos-Gedichte zitiert. In der Schweiz
solidarisierte sich Max Frisch mit Ritsos.
Die Beschäftigung mit dem Schaffen von Ritsos beginne im deutschsprachigen
Raum erst all¬mählich, während es in Frankreich und anderswo schon
bekannt sei, stellte Tzermias 1969 in der „Neuen Zürcher Zeitung“
fest. (Warum das so war, sagte ich bereits.) Es ist richtig, wenn damals in
der Schweizer Zeitschrift „Propyläen“ ein Kritiker darauf hinwies,
dass an moderner griechischer Literatur in der Bundesrepublik der 50er/60er
Jahre fast nur die bedeutenden, aber eben etwas esoterischen Dichter Kavafis
und Seferis eine Rolle spielten, allenfalls noch Kazantzakis, nach dem Welterfolg
seines „Sorbas“ (der aber auch der Erfolg der Verfilmung mit Anthony
Quinn in der Titelrolle und mit der Musik von Theodorakis war). Noch Brecht
(†1956) nahm offensichtlich keine Notiz von seinem griechischen Gesinnungsgenossen.
Selbst in dem Sammelband „Internationale Literatur des sozialistischen
Realismus 1917-1945“ (Berlin, Weimar 1978) wurde Ritsos, wurde die ganze
griechische linke Literatur im Unterschied zu derjenigen anderer nichtsozialistischer
Länder überhaupt nicht erwähnt. Die erste deutschsprachige Ritsos-Auswahl
in Buchform erschien schließlich erst 1968 in Westberlin. Wenn seinerzeit
im Zusammenhang mit der Ritsos-Rezeption jemand sagte: „Wir kümmern
uns wenig um Tradition und Eigenart der Poesie Griechenlands, obwohl wir es
gern besuchen“, so mag das damals für die Bundesrepublik gegolten
haben; in der DDR waren Griechenlandreisen bis zur Wende fast unmöglich.
Die erste Ritsos-Auswahlübersetzung erschien dort zwar erst 1970 („Die
Wurzeln der Welt“), doch wurden von 1951 an wiederholt einzelne Gedichte
in Übersetzung in Zeitschriften wie „Sinn und Form“ und in
Anthologien gedruckt. An Ritsos gleichgesinnten, gleich bedeutenden Dichtern
sind in Ostdeutschland vor Ritsos Aragon und Neruda heimisch geworden; allerdings
ist das Französische und selbst das Spanische keine solche Sprachbarriere
wie das Neugriechische. Seit 1979 wurden immer wieder Ritsos-Werke deutsch in
Buchform verlegt (einige nannte ich), darunter mehrere bibliophile Ausgaben,
so 1987 vom „Ungeheuren Meisterwerk“ mit einer Originalgrafik von
Ritsos. Ritsos-Pflege fand in vielfältigen Formen statt: Da gab es Aufführungen
vertonter Ritsos-Gedichte beim 11. Festival des Politischen Liedes (1981) und
bei den Dresdner Musikfestspie¬len 1984, da gab es den TV-Dokumentarfilm
„Sag Himmel auch wenn keiner ist“ (1984) und Rundfunksendungen.
Im Mai 1984 lasen im Gohliser Schlöss¬chen Leipzig Ritsos-Übersetzer
und –Nachdichter aus seinem Oeuvre; anschließend bedankte sich der
Dichter mit einer temperament- und geistvollen Rede über Poesie und Literaturwissenschaft
sowie mit der Rezitation seines Gedichtes „Irini“ („Frieden“)
in griechischer Sprache; dies tat er mit einem Nuancenreichtum, um den ihn mancher
berufsmäßige Sprecher beneiden konnte.
Einen Tag später wurde Ritsos im Alten Senatssaal der Universität
Leipzig in Anwesenheit des griechischen Botschafters mit der Ehrendoktorwürde
der Leipziger Alma mater ausgezeichnet, „in Würdigung seines reichen
lyrischen, epischen und dramatischen Schaffens, das einen gewichtigen Beitrag
zur Weltliteratur darstellt; in Anerkennung seiner unbeugsamen politischen Haltung
auch in dunkelsten Zeiten der Geschichte; in Hervorhebung seiner vielfältigen
Aktivitäten im Dienste der Freundschaft zwischen den Völkern“.
(Leipzig war, nach Saloniki und Birmingham, das dritte Neogräzistik-Zentrum,
das Ritsos zum Dr. h. c. machte. Die Umstände, unter denen die Ehrung zustande
kam, waren kurios. Unter anderem schrieb ich in dieser Angelegenheit an Politbüromitglied
Hermann Axen einen Brief, der nie beantwortet wurde, aber offensichtlich für
den Erfolg meiner jahrelangen Bemühungen entscheidend war. Darauf kann
ich hier nicht eingehen.) Auch hier stattete der Dichter seinen Dank mit seiner
Ansprache ab, die mit denselben Epitheta charakterisiert werden kann wie die
im Gohliser Schlösschen. Ich zitiere Auszüge:
„Heute ist ein großer Tag für mich. Und es ist ein eigenartiger
Zufall: Die Universität Leipzig wurde 1409 gegründet, und ich wurde
1909 geboren, das heißt, 500 Jahre nach der Gründung der Universität
ist der Tag meiner Geburt. Und in diesem Jahr, da Sie den 575. Jahrestag der
Gründung der Leipziger Universität feiern, feiere ich meinen 75. Geburtstag,
das heißt, ich bin in gewisser Weise ein Altersgenosse der Leipziger Universität,
nur eben 500 Jahre jünger. Wenn wir aber die griechische Tradition dazurechnen,
die, ob ich will oder nicht, nicht nur in meinem Empfinden, sondern auch in
meinen Adern kreist, kann ich sagen, dass ich zwei bis drei Jahrtausende älter
bin als die Universität Leipzig. Ich würde Ihnen gern noch vieles
sagen. Aber eine Rede, selbst die kürzeste, wird durch eine Übersetzung
doppelt so lang. Und in diesem Fall trifft die Verstimmung des Publikums sowohl
den Redner als auch den unschuldigen, bedauernswerten Übersetzer. So werde
ich Ihnen, um Sie nicht noch mehr zu ermüden, keine Rede über die
Dichtung halten. Ich schließe, indem ich meine große innere Bewegung
über die große Ehre zum Ausdruck bringe, die Sie mir durch die Verleihung
der Ehrendoktorwürde der großen Universität Leipzig erwiesen
haben. Vergessen wir nicht, dass an dieser Universität ein Lessing, ein
Leibniz, ein großer, ein sehr großer Goethe studiert haben.
Den Titel eines Ehrendoktors haben hier wirklich große Dichter erhalten
wie mein Freund Pablo Neruda, und ich betrachte es als große Ehre, dass
in der Liste der Ehrendoktoren Ihrer Universität auch mein Name stehen
wird.“
Eine Begegnung mit Ritsos hatte ich außer in Leipzig auch in Athen. Dort
besuchte ich ihn in seiner Wohnung im Bezirk Ajos Konstantinos (keinem Nobelviertel),
im vierten Stockwerk; gegen¬über einer Schule mit lärmenden Kindern
im Hof. Ritsos empfing mich in der ‚offiziellen’ Wohnung für
Besucher: Wände und Fußboden fast gänzlich bedeckt mit Ritsos-Werken
im Original und in Übersetzung (es gibt Übertragungen in einige Dutzend
Sprachen); mit Gemälden und Fotos von Ritsos und seiner Frau; mit den bemalten
Steinen, von denen ich sprach – ein Museum, kaum Platz zum Treten, kaum
freie Sitzgelegenheiten. Zu literarischer Produktion, ließ ich mir sagen,
pflegte sich Ritsos in eine Zweitwohnung, im gleichen Haus, zurückzuziehen.
Ritsos hatte mich erwartet. So unterbrach er, als ich kam, die Arbeit, mit der
er gerade befasst war: zusammen mit einer Mitarbeiterin für das Cover einer
ausländischen Edition ein passendes Ritsos-Foto herauszusuchen. (Auf Selbstinszenierung
hat sich der Meister vortrefflich verstanden; das wurde bei vielen Gelegenheiten
deutlich.) Dafür klingelte pausenlos das Telefon, und mehrfach waren es
Anrufe, denen Ritsos sich stellen musste, so, als die Witwe seines eben verstor¬benen
Freundes Manos Katrakis Trost und Rat suchte ...
Ritsos sind viele gewichtige Ehrungen innerhalb und außer¬halb seiner
Heimat zuteil geworden. Den höchsten internationalen Literaturpreis, den
Nobelpreis erhielt er nicht; im Vergleich zu den griechischen Dichtern Seferis
und Elytis, die 1963 bzw. 1979 mit ihm ausgezeichnet wurden, war er dem Preiskomitee
wohl zu weit links. Immerhin hat dieses Gremium den Preis 1971 dem ebenfalls
sehr weit links stehenden Pablo Neruda zuerkannt, der, als er ihn empfing, äußerte,
er kenne jemanden, der ein größeres Recht auf diesen Preis habe:
Jannis Ritsos ... Nicht nach Verdienst bekannt ist Ritsos’ noble Reaktion
auf die Verleihung jenes Preises an Elytis. Er gratulierte ihm mit den schönen
Worten: „Die Verleihung des Nobelpreises an unseren großen Dichter
Elytis ist eine Ehre vor allem für den Nobelpreis. Elytis selbst hat schon
die bedeutendsten Preise bekommen: weiteste Anerkennung und die Liebe des ganzen
griechischen Volkes.“ Dies ist eines der denkwürdigsten documents
humains. Auch Jannis Ritsos genießt die „weiteste Anerkennung und
Liebe“ des griechischen Volkes, und nicht nur des griechischen.
*Aus Raumgründen gekürzte, doch an einigen Stellen ergänzte
Fassung der in „Phasis“ 5-6 (Tbilisi 2003) veröffentlichten
Laudatio auf Ritsos. Der Vortragscharakter ist beibehalten; auf Anmerkungen
wurde verzichtet. Nachdrücklich hingewiesen sei auf die ausführliche
Würdigung von Asteris Kutulas in dem von ihm herausgegebenen Band: J. R.,
Deformationen, Köln 1996. Dort sind auch die griechischen Erstausgaben
der Ritsos-Bücher verzeichnet sowie die Erstausgaben der in Buchform erschienenen
deutschen Übersetzungen, die auf Schallplatte und CD vorliegenden Vertonungen
von Ritsos-Werken sowie Aufführungen seiner Dra¬men. (Damals konnte
noch nicht genannt sein: J.R., „Die Umkehr bilder des Schweigens. Gedichte.
Griechisch und deutsch“, über¬tragen und mit einem Nachwort versehen
von Klaus-Peter Wede¬kind, Frank¬furt 2001; das grie¬chische Original
erschien postum 1991 in Athen.)