KIKI DIMOULA: AUF DER SUCHE NACH DEM WESEN DER DINGE


Evangelos Konstantinou

I.


Der Dichter ist Schöpfer einer eigenen Welt, der durch sein autonomes Schaffen die Last des Lebens zu überwinden versucht. Er konzipiert eine lyrische Dimension, in der er dem Unsagbaren und Unaussprechlichen näher zu kommen sucht. Er schafft eine eigene Wirklichkeit aus der schon bestehenden, er ist bemüht, der Wirklichkeit einen persönlichen Ausdruck zu verleihen und dem vergänglichen Augenblick Dauer. Das lyrische Oeuvre eines Dichters könnte man mit einem Gebäude vergleichen, das er mit seinem Kosmos bewohnen will. Die Festigkeit dieses Gebäudes hängt von der Qualität des Materials ab, aus dem es errichtet wird.
Im Mittelpunkt unserer Betrachtung steht nun das lyrische Gebäude der Dichterin Kiki Dimoula, geb. 1931 in Athen. Versuchen wir, das Baumaterial zu prüfen, um später in ihr lyrisches Gebäude einzutreten. Im Übrigen bezeichnet die Lyrikerin selbst ihre Dichtung als ein Gebäude, „in dem das große Unternehmen des Gefühls untergebracht wird“. Die Themen, die sie behandelt, sind nicht neu. Es sind die Themen jeder großen Lyrik, wie z.B. Werden und Vergehen, Liebe und Tod, Zeit und Verlust, Hoffnung und Enttäuschung usw. Sie ist eine gute Kennerin der wichtigsten Repräsenanten der griechischen und der europäischen Lyrik, deren Spuren man in ihrem Werk oft begegnet. Das absolut Neue aber in ihrer Dichtung ist die Art, wie sie aus dem bekannten Material eine neue Welt, eine neue Schöpfung schafft. Die überkommenen romantischen Perspektiven des Lebens und der Gefühle, die überschwängliche Allegorie der Dichtung als himmlische Gottheit haben in der Dichtung Kiki Dimoulas keinen Platz. In ihren Gedichten beobachtet man eine harmonische Mischung aus altgriechischen, byzantinischen und neugriechischen Sprachelementen, wodurch ganz neue und verblüffende Wortassoziationen zustande kommen, die ihrer Lyrik eine besondere Note verleihen. Mit der griechischen Sprache geht sie sehr frei und unkonventionell um.
Ein Charakteristikum ihrer Dichtung ist der ununterbrochene Dialog mit sich selbst, mit ihren Gefühlen und Empfindungen und mit der sie umgebenden Welt. Die Spiegelung der überlieferten Ordnung der Welt in ihren kühnen Bildern und Metaphern erinnern uns oft an groteske, surrealistische Bilder. Und das absolut neue Element ihrer Poesie ist die Personifizierung, die Ontologisierung von Begriffen, Worten, Gefühlen und Gegenständen in ihrem Bemühen, durch einen konkreten Dialog mit den Dingen, denen sie einen realen Körper verleiht, deren wahres Wesen zu entdecken. Als sie gefragt wurde, warum sie Worte und Begriffe personifiziert und ontologisiert, antwortete sie: „Um sie zu prüfen, weil in den meisten von ihnen ein innerer Judas (Verrat) steckt. Ihre hinterlistige Polysemie (Vieldeutigkeit) hat mich oftmals durch ihren Kuss dem Misserfolg ausgeliefert. Ich personifiziere sie aber auch aus einem anderen Grund. Ich möchte sie in einen ersten Leser und verantwortlichen Kritiker all dessen verwandeln, was sie schreiben, ich aber unterschreibe“.
Das lyrische Gebäude, das unsere Dichterin „dem Flüstern eines inneren Auftrages“ gehorchend schafft, weist neun Etappen, neun Gedichtbände auf, die eine innere Kontinuität zeigen, so dass das Ende den Anfang und der Anfang das Ende wach ruft. Das Fundament des gesamten Gebäudes legte sie mit ihrem ersten Lyrikband 1952, mit dem Titel „Poihßmata“ (Gedichte). Nach Überprüfung aber dieses Fundamentes durch sie selbst, erschien es ihr nicht stabil genug. Deswegen zog sie diesen Band zurück. Es folgten die weiteren Gedichtbände, welche die Stabilität des lyrischen Gebäudes im Sturm der Zeit garantieren: 1. äErebow (Finsternis), Athen 1956, 1990 2. Aufl.; 2. öErhßmhn (In Abwesenheit), Athen 1958, 1990 2. Aufl.; 3. öEpi? taß iäxnh (Auf den Spuren), Athen 1963, 1994 2. Aufl.; 4. Toß lißgo touq koßsmou (Das bisschen Welt), Athen 1971, 1983 2. Aufl., 1990 3. Aufl.;5. To? teleutaiqo svqma mou (Mein letzter Körper), Athen 1981, 1989 2. Aufl.; 6. Xaiqre Poteß (Lebe wohl niemals), Athen 1988; 7. ÖH eöfhbeißa thqw lhßjhw (Die Jugend des Vergessens), Athen 1994; 8. ÖEnoßw leptouq mazuß (Eine Minute zusammen), Athen 1998; 9. QHxow aöpomakrußnsevn (Klang der Entfernungen), Athen 2001;
Unsere Dichterin spielt mit den Worten, den Verben, den Akzenten, denen sie eine Stimme verleiht, und durch ihre zahlreichen lyrischen Neologismen ist sie stets bemüht, die Wirklichkeit vor Augen zu haben. Das erste Gedicht ihres Bandes Eine Minute zusammen trägt den Titel öEkdoxhß dhmiourgißaw (Schöpfungsakt) macht uns mit der Art ihrer Schöpfung vertraut. Die bekannte biblische Schöpfungsgeschichte parodierend, baut sie ihre eigne Welt auf, deren Hauptcharakteristikum der rasche Verfall und die Unbeständigkeit ist. Die Begriffe der Ewigkeit, der Dauer, des Vergessens und Erinnerns, des Betrugs und der Täuschung führen hier einen turbulenten Dialog über die Art dieser Schöpfung, die sich als ein trügerisches Spiel erweist. Wo ist das versprochene Paradies? Wo bleibt die Ewigkeit? Nur eine unendliche Nacht (Moßnon aöteleußthtow nußxta) und da erhob sich das erste Schluchzen des Zweibeinigen – ihn hatte der Apfel gebissen“ (toßn eiQxe dagkvßsei toß mhqlo), umgekehrt, wie es in der Genesis steht.
Das Schluchzen, die Trauer über das rapide Verschwinden und Vergehen des Lebens werden unsere Dichterin von ihrem ersten Gedichtband mit dem charakteristischen Titel äErebow (Finsternis) an ständig begleiten. Ihre Beichte lautet: ÖH jlißyh mou deßn perigraßfetai (Meine Trauer ist unbeschreiblich). Der vergangene Tag gehört zu den großen Verlusten des Menschen. Die Vergänglichkeit, und die Ohnmacht ihr gegenüber, nimmt eine zentrale Stellung in der Dichtung Kiki Dimoulas ein. In dem Gedichtband Finsternis dominieren Trauer und Melancholie stark, weil hier ihre Verse einen persönlichen Anlass haben, nämlich die Abwesenheit, den Tod ihres Mannes, wie auch die Titel ihrer Gedichte verraten: äErebow (Finsternis), Keno? (Leere), Melagxolißa (Melancholie), Fjora? (Vergänglichkeit), öAnazhßthsh (Suche) usw. Die Melancholie ist ihre treue Gefährtin, die in allen Stationen ihres Lebens und Werkes gegenwärtig ist. Sie betrachtet sich selbst als aöxjofoßrow melagxolißaw (Lastträger der Melancholie). Es handelt sich hier aber um eine schöpferische Trauer und eine Melancholie, die den Blick unserer Dichterin bei der Betrachtung der Dinge schärft. Sie ist bemüht, von verschiedenen Seiten aus das Wesen der Trauer zu beleuchten. Sie widmet ihr auch ein spezielles Gedicht, in dem sie nach ihrem üblichen Verfahren die Trauer personifiziert und sie nach ihrem Hab und Gut fragt. An die Trauer sich wendend, wirft sie ihr vor, dass sie uns listig unangemeldet erwirbt. „öAdhßlvta maqw aöpoktaqw und fährt weiter fort: Bgaißneiw aöpo? sphliaß oÖmißxlhw (Du kommst aus der Grotte des Nebels) – Kai? sa?n jroß?sma kourelivqn eiösxvreiqw sth?n eÄtoimh paßnta yuxhß maw naß eöleeiq (Und wie der Rausch der Lumpen dringst du ein in unsere Seele ein, die stets bereit ist, sich zu erbarmen).
Die Trauer, die in ihrem Band „Lebe wohl niemals“ noch stärker in den Vordergrund rückt durch den Tod ihres Mannes, wird „als die nationale Hymne unserer Existenz“ bezeichnet . Die Trauer kann den alten und vergessenen Schmerz zu einer neuen ungekannten Erschütterung verwandeln. Die „teuflische Trauer steckt auch selbst mein Schreiben heimtückisch in ihre Tasche“.
Sehen wir nun, wie unsere Dichterin ihr Handwerk versteht und wie sie mit ihrem „inneren Auftrag“, das Gebäude ihrer Dichtung zu errichten, umgeht und wie sie bei der heutigen Geschwindigkeit der Arithmie und den zerstörten Schönheiten ihre wohltuende Intervention zustande bringt. In allen bisherigen Gedichtbänden wird man viele Andeutungen und Bemerkungen dazu finden, in denen Ehrlichkeit des dichtenden Subjekts ausdrückt. In ihrem Gedichtband „ öErhßmhn“ (In Abwesenheit) wird sie in dieser Richtung deutlicher. Selbst der Titel In Abwesenheit deutet auf den „inneren Auftrag“ hin, der der Dichterin gegeben wurde. Die Gabe, diesen inneren Auftrag zu vernehmen, die nichts anderes als ihre lyrische Begabung ist, wurde ihr in Abwesenheit gegeben. Das verdeutlicht sie auch in ihrer Rede anlässlich ihrer feierlichen Aufnahme in die Akademie der Wissenschaften von Athen. Obwohl sie sich ein halbes Jahrhundert lang der Dichtung gewidmet hat, kann sie über deren Wesen nichts mit Sicherheit aussagen. Diese Unwissenheit ist das sicherste Indiz für den Rang eines Dichters, der sich bemüht, mit seinem Werk eine Antwort darauf zu geben, die aber nur vorläufig und völlig unzureichend bleiben muß. Die Dichtung beschreibt unsere Lyrikerin als „ein Verschwinden, als eine Sonnenfinsternis der Regelmäßigkeit“, äEkleiyh thqw kanonikoßthtaw. Die Dichtung ist gänzlich unsichtbar. Man spürt sie vielleicht durch die Intuition, „durch ein beharrliches Schaudern des Schweigens und durch die Art und Weise, wie manche Unruhe mit ihren Nägeln an der Tür kratzt“. Dass die lyrische Empfindsamkeit gegeben ist, entspricht auch der Überzeugung der altgriechischen Tradition, die nach dem Beispiel Hesiods die Dichtung als ein Geschenk der Musen betrachtete. Ihren dichterischen Impetus vergleicht unsere Dichterin mit einer „kleinen Anhöhe, die ihr überlassen wurde“. Die dichterische Inspiration, über die sie nichts Konkretes zu sagen weiß, hat sie nur intuitiv gespürt „beim Vernehmen des Flüsterns eines inneren Auftrags trotz des ohrenbetäubenden Lärms von außen“.
Diese Auffassung begegnet uns auch bei dem großen griechischen Dichter der Diaspora, Konstantinos Kavafis, in seinem tiefsinnigen Gedicht mit dem Titel „Sofoi? de? prosioßntvn“ (Was bevorsteht, fühlen die Weisen) 1896. (Aus einer Rede des Apollonios von Tyana, VIII 7).
„Was die Zukunft bringt, spüren die Weisen –
der geheimnisvolle Lärm –
der der nahenden Dinge erreicht sie –
und in Ehrfurcht lauschen sie–
während das Volk draußen auf der Strasse nichts davon hört“.
Mit den Weisen sind die Dichter gemeint.
Im ersten Gedicht der Sammlung In Abwesenheit unter dem Titel Prolog personifiziert die Dichterin das Titelblatt, das hier über seine schwere Aufgabe spricht, „einige Seiten mit Versen festzuhalten –eine ganzes Leben in Kürze“. Im Grunde genommen spricht hier das dichterische Subjekt, das uns von seiner lyrischen Schöpfung und seinen inneren Mechanismen eine Ahnung davon vermitteln will, wie es die reale Welt mit ihren Antinomien dichterisch aussprechen kann. Bereits der erste Vers des oben genannten Gedichtes „Mouq eäbalan sthßn masxaßlh“ (Man steckte mir ein Stück Papier unter die Achsel) verrät hier diesen inneren Auftrag der Dichterin, „ein ganzes Leben mit wenigen Versen festzuhalten und dass ihre Seiten, ihre Verse keine Verwandtschaft mit gutgelaunten Dingen – wie z. B. der Sonne haben.

II.


Eine zentrale Funktion in der Dichtung Kiki Dimoulas übernehmen die zwei uralten Priesterinnen des menschlichen Lebens, die so alt wie das Leben selbst sind. Mnhßmh (Erinnerung) und Lhßjh (Vergessen). Welche Bedeutung sie im Leben des Menschen spielen, zeigen auch die uralten Mythen und die altgriechische Personifikation der Erinnerung und des Vergessens. In der Theogonie Hesiods wird die Mnemosyne (Erinnerung) als Tochter der Erde und des Himmels bezeichnet, und ihre eigenen Töchter sind die neun Musen. Die Lethe (das Vergessen) wird wiederum nach den antiken Sagen mit dem Fluss des Vergessens in der Unterwelt identifiziert. Aus ihm trinken die Verstorbenen, damit sie ihr früheres Leben vergessen können. Die Vergessenheit ist nach Hesiod wiederum Tochter der äErida (des Streits). Die Musen aber verleihen dem Menschen die Gabe des Vergessens von den Bitterkeiten des Lebens und schenken ihm ein wenig Erholung und Ausruhen von dessen Sorgen. Die uralte Anschauung, dass die Erinnerung die Mutter der Musen ist, zeugt deutlich von ihrer wichtigen Funktion in der Dichtung. Kiki Dimoulas, die sich der griechischen lyrischen Tradition bewusst ist, betrachtet dieses Gegensatzpaar, Erinnerung und Vergessen, als das wichtigste Instrument ihrer Lyrik. Mit ihrem scharfen Intellekt und dem unendlichen Reichtum von Bildern und Metaphern beschreibt sie die vielfältigen Funktionen des Erinnerns und Vergessens, dieser zwei Priesterinnen im Tempel ihrer Poesie, die einem bunten Mosaikbild ähnelt. Im ständigen Dialog mit diesen personifizierten Begriffen will sie alle Seiten der menschlichen Existenz in ihrer inneren Beziehung vor Augen führen. In all ihren Gedichtbänden wird der Leser diesem Gegensatzpaar begegnen, aber vor allem in der Gedichtsammlung mit dem Titel Die Jugend des Vergessens, die sie ihrem verstorbenen Mann gewidmet hat. Die Dichterin ist bemüht, die vergangene Zeit des Zusammenseins mit ihrem Gefährten durch die Erinnerung festzuhalten. Die Erinnerung erlaubt uns die Vergegenwärtigung all dieser Dinge, die wir erlebt haben und verleiht ihnen die Dauer, die die Lethe ständig bedroht. Unsere Lyrikerin schafft hier eine neue Mythologie über das Erinnern und Vergessen, die unserer Zeit entspricht. Wie jeder gute Dichter kann sie einem persönlichen Erlebnis durch das magische Wort der Dichtung universelle Bedeutung verleihen und den aufmerksamen Leser ansprechen. Dieses entspricht auch der Anschauung des Aristoteles über die Kunst, deren Aufgabe das Aufweisen eines Allgemeinen ist, und dass dieses Allgemeine im Gegenwärtigen vorhanden ist. Die vielfältige Funktion des Erinnerns und Vergessens führen die verschiedenen Situationen im Leben eines Menschen vor Augen, mit denen er konfrontiert wird. Diese Protagonistinnen rücken durch die Personifizierung in die unmittelbare Nähe, so daß unsere Dichterin mit ihnen einen unendlichen Dialog führen kann. In ihrem Gedicht mit dem bezeichnenden Titel „öAnaereißpvsh (Wiederverwüstung), das die Dichterin bei einem Besuch in Delphi verfasst hatte, begegnet uns das Gegensatzpaar in Anlehnung an die antike Tradition wieder personifiziert. Die „Priesterin Lethe ist hier sehr beschäftigt, sie muss vielen Menschen helfen, daher schluckt sie unzerkaut die rauchenden Blätter der Dinge, die vergessen werden sollen“. Die Erinnerung wird wiederum in einem Gedicht, in dem „über die Pluralform“ die Rede ist, als Hauptname der Traurigkeiten bezeichnet.


„Die Lethe (Vergessen) ist immer hungrig und wartet darauf, unsere Ereignisse, Leiden und Leidenschaften, zu schlucken“. In dem genannten Band „Die Jugend des Vergessens“ sieht man deutlich das Bemühen unserer Lyrikerin, dem Vergessen Einhalt zu gebieten, denn das Vergessen ist „ein Geschöpf von verbrecherischer Habgier. Die Erinnerung wiederum ist die Stenotypistin der Zeit, die die Ereignisse unseres Lebens festhält.“ Sie ist weiterhin eine „heimliche Psychotherapeutin, eine Katakombe, in der unsere unerfüllten Wünsche aufbewahrt werden“. Das Vergessen plant immer den schnellen Tod der Erinnerung und will ihr all das wegnehmen, was sie verborgen eingespart hat. Die Dichtung ist mit der Erinnerung innig verbunden, daher werden die Musen, d.h. die Poesie und die übrigen Künste, nach Hesiod als Töchter der Mnemosyne betrachtet. Das dichterische Wort besitzt diese magische Kraft, der Zeit entgegen zu wirken. Daher die überzeugte Beharrlichkeit unserer Dichterin, sich zu erinnern. Diese Beharrlichkeit spürt man in all ihren Gedichtbänden und vor allem einer von ihnen, mit dem Titel „Thqw Diakainhsißmou“ (Der Woche nach Ostern), ist ausschließlich diesem Thema gewidmet. Bereits im dritten Vers dieses Gedichtes verkündet die Dichterin diese Überzeugung: Protimvq na? jumaqmai (Ich ziehe vor, mich zu erinnern), die sie hier minutiös behandelt und von verschiedenen Seiten beleuchtet. Die Erinnerung entsteht für sie nicht aus Mangel an lebendigen Bildern, sondern sie will sich dadurch an den ursprünglichen Platz der Dinge erinnern, an den sie sie gestellt hat, weil die lebendigen Bilder selbst rasch ihren Platz wechseln. Indem sie die untätigen Figuren durch die Erinnerung in Bewegung setzt, gewährt sie auch Gott eine gewisse Beweglichkeit“. Das Erinnern ist keine leichte Sache, sondern ein mühevolles Bemühen, es ist eine Zuflucht vor der Drohung des Vergessens. „Wenn ich auf dem Erinnern bestehe, bedeutet das nicht, dass ich dadurch eine Rechtfertigung finden will, dass ich immer mit denselben veralteten Worten spreche“. Die Erinnerung sieht unsere Dichterin nicht als eine Flucht vor dem Kampf, vor der Realität. Sie zieht nicht die Wüste vor, sondern mit ihrer Lyrik steht sie im Zentrum des Lebens. Ihre Lyrik hat „die zentralen Plätze“ des Lebens zum Thema, an die sie sich ständig erinnert. In den drei letzten Versen dieses Gedichtes offenbart uns die Dichterin das Ziel ihrer lyrischen Erinnerung: „Damit bemühe ich mich um ein wenig Hoffnung, um ein wenig Erneuerung“ (Gia? lißgh eölpißda gia? lißgh aönaneßvsh-jumaqmai). Dieses Wenige, das eölaßxiston, erhofft unsere Lyrikerin von der Dichtung. Und diesem „Wenigen“ dient sie mit all ihren dichterischen Strategien. Keine großen Erwartungen, keine himmlische Inspiration, wie auch Anna Stavrakopoulou richtig beobachtet hat. „Sie extrahiert eine Essenz aus gewöhnlicher menschlicher Erfahrung“. Die Dichterin betont mit Nachdruck „Ich bestehe auf der Erinnerung, weil ich gewissenhaft bin. Ich will dadurch ein ehrlicher, ausgezeichneter Fälscher der Dauer sein“. Dieses Wenige anstatt des Vielen ist für unsere Lyrikerin seit der Erschaffung der Welt das ständige Postulat der Poesie. Die Poesie ist für sie „ein schmerzlindernder Tropfen im Ozean der Trauer, das ist nicht wenig. Sie verwandelt das All in einen Mikrokosmos“.
Traurig beobachtet Kiki Dimoula die Kürze der Zeit, die dem Menschen gegeben wurde. Und diese kurze Zeit ist die der ewigen Wiederholung aller Dinge. Wie die altgriechischen Denker, vor allem die Pythagoräer, will sie dieser ewigen Wiederkehr einen Sinn geben, den sie bei ihrer unermüdlichen Suche mit der Ratio nicht gefunden hat. Sie will das Rätsel der menschlichen Existenz erschließen, sie sucht nach einer logischen Erklärung, aber umsonst. Sie entdeckt nur das Absurde. Die ewige Wiederkehr aber gewinnt durch die Brille der Poesie dieses Etwas, von dem die Dichterin oft spricht. In der ewigen Wiederholung entdeckt sie den kostbaren Augenblick einer poetischen Idee, daher gewinnt die Wiederholung (öEpanaßlhyh) bei ihr eine ganz andere Dimension. Eine Dimension, die auch die großen Dichter kennen. Sie verachtet die Wiederholung nicht, denn „sie ist das einzige Geschäft, das Tag und Nacht offen hat und hier kauft die Illusion die Dinge der Unsterblichkeit. Unveränderlich sind die Venen dieser Welt, in denen nicht viel Neues und Überraschendes fließt. Das angeblich Neue ähnelt einem Nieseln, das durch das durchlöcherte Dach des Staunens tropft und wir sammeln es in einer Plastikschüssel der Wiederholung“ Eine logische Erklärung dieser Wiederholung gibt es nicht. Das Wichtigste, das Desiderat ist in diesem Fall ist, die Wiederholung auszuhalten und sie nicht logisch verstehen zu wollen. Die Dichtung lebt aus der Erinnerung, aus der Illusion des dichtenden Subjekts. Daher geht es in der Dichtung Kiki Dimoulas nicht um das Wissen, sondern um das Meinen, um die Illusion. Die Illusion, die Einbildungskraft ist diejenige, die uns hilft, die Nahrung für unser Durchhaltens zu finden (thßn trofhß thqw aöntoxhqw maw). Die Karwoche, die jedes Jahr eine Wiederholung der Passion und der Wiederauferstehung Christi ist, liefert unserer Lyrikerin den Anlass, wieder an die Wiederholung, die Wiederkehr aller Dinge zu denken und ihre Überzeugung über die Wiederkehr zum Ausdruck zu bringen. Sie hat für sie aus den bereits genannten Gründen einen unermesslichen Wert, weil der Dichter in der Wiederholung den schöpferischen Augenblick, den poetischen Augenblick entdecken kann, der nichts mit einer transzendentalen Ewigkeit zu tun hat, sondern mit einer irdischen Ewigkeit, die durch das Gedicht, in diesem Augenblick entsteht und der Veränderung, dem Verderb und dem Vergessen Einhalt gebietet. Daher wird die Wiederholung mit sakralen Namen beschrieben, die die Dichterin aus der kirchlich-byzantinischen Sprache übernimmt. Sie ist für sie eine heilige Wiederholung ( ÖH ÖAgißa öEpanaßlhyh) – Die Wundertätige (hÖ jaumatourghß) – die nicht von Menschenhand geschaffen wurde (hÖ aöxeiropoißhtow) – so, wie die Dinge sie ohne Unterschrift fanden (oÄpvw th? brhßkane aönupoßgrafh ta? praßgmata,) – begraben (jammeßnh) – in einer alten Stufe unseres Schicksals (se? kaßpoia palaioßthta thqw moißraw maw,) - in irgendeinem unserer Vorfahren, der Zukunft (se? kaßpoio proßgonoß maw meßllon.) – So, wie ich an sie glaube ( ÄOpvw th?n pisteußv.)
Die lyrische Auffassung unserer Dichterin von der Wiederholung aller Dinge erinnert uns an Friedrich Nietzsche, bei der die „ewige Wiederkehr“ ihre eminente Bedeutung nur durch das dichtende Subjekt und die Dichtung gewinnt. Die Bedeutung des „Augenblicks“ spielt für Kiki Dimoula, wie wir bereits gesehen haben, bei der Wiederholung der Dinge eine außerordentliche Rolle, weil in diesem Augenblick der Keim des Gedichtes liegt, das gegen Vergangenheit und Zukunft gerichtet ist. Unsere Dichterin, die sich absolut zu ihrer irdischen Beschaffenheit bekennt, vermeidet ostentativ das Wort „ewig“. Für Nietzsche vermittelt der Gedanke der „Wiederkunft“ das Erlebnis der „Ewigkeit“, aber einer „Ewigkeit“ mitten in der Zeit, im Augenblick. Wie ein ausgezeichneter Interpret des nietzscheischen Denkens, Theo Meyer, sehr treffend betont. „Diese Ewigkeit ist der Einbruch des Zeitlosen mitten in der Zeit“
Der Gedanke der Wiederholung ermöglicht Nietzsche und unserer Dichterin den dichterischen Augenblick, der etwas Zeitloses besitzt. Die ständige Wiederholung der Dinge hat bei unserer Lyrikerin auch eine existentielle Dimension, die uns an den uralten Mythos des Sisyphos erinnert, der durch Albert Camus eine hervorragende Interpretation erfahren hat. Das Durchhalten ist Wichtigste in dieser ständigen Wiederholung, ist die Bejahung des Lebens. wie Kiki Dimoula sagt, weil man keine logische Erklärung des Kosmos finden kann. Die Kraft zum Durchhalten findet sie in der Dichtung, im dichterischen Augenblick, bei der ständigen Wiederholung der Dinge. Die Wiederholung des ständigen Martyriums Sisyphos’, einen Felsblock ununterbrochen den Berg hinauf zu wälzen, von dessen Gipfel der Stein wegen seines Gewichtes wieder hinunterrollt, lehrt uns nach der Interpretation von Camus „die höhere Treue, die die Götter leugnet und Felsen hebt“. Durch die ständige Wiederholung seines Martyriums bejaht er das Leben und kann wie Ödipus sagen „Ich finde, dass alles gut ist“.
Kiki Dimoula flüchtet nicht in eine überirdische Metaphysik, um im Leben Halt zu suchen. Sie will auf Erden die Antwort auf die ständige Wiederholung suchen und die findet sie im lyrischen Augenblick. Seine absolut irdische Orientierung befreit ihre Dichtung von jeglicher Transzendenz. Daher geht sie nicht nur mit der griechischen Sprache sehr frei um, sondern auch mit dem orthodoxen Glauben. Sie will in Christus den lebenden Mitmenschen sehen, einen Christus, der auf Erden bleibt und nicht in den Himmel aufsteigt. Die dogmatische orthodoxe Theologie, die Liturgie, die Hymnographie erfahren bei ihr eine willkürliche Interpretation, in der der menschliche Faktor tonangebend ist. Mit Ironie und bisweilen mit Sarkasmus betrachtet sie überkommene religiöse Überzeugungen und sucht einen tieferen und menschlichen Sinn zu finden. Die Religion, wie auch die Träume, sind eine Erfindung des Menschen, mit dem einzigen Ziel, ihm bei der ständigen Wiederholung der Dinge beizustehen. Mit all ihren Mitteln wollen sie die Bürde des Menschen leichter machen. Die orthodoxe Totenmesse, im Gedicht „Dvqron aädvron (Unnützes Geschenk) parodiert, verliert bei ihr den religiösen Trost und ihre metaphysische Grundlage. Ironisch stellt sie auch die Erquickung, die nach der orthodoxen Totenmesse den Menschen im Jenseits erwartet, in Frage. Sie kann nicht daran glauben, dass die Trauer den Menschen verlassen kann. Daher ihre Frage: ÄVste maqw aöpoxvrißzetai hÖ lußph; (Verlässt uns also die Trauer?) Was die Gebete und Hymnen der orthodoxen Totenmesse versprechen, daran glaubt sie nicht. Den Höhepunkt der Ironie bezüglich dieses Glaubens bilden die letzten fünf Verse dieses Gedichtes, die durch ihre abstrakte Metaphorik und Umkehrung der traditionellen Werte des Glaubens den Leser überraschen. Sie ist so mit dem irdischen Menschen behaftet, dass ihr jede Befreiung des Menschen von seinem Schicksal lustig erscheint. öAlhßjeia xaßnontai oÄla auötaß; (Wahrlich, wird all das verschwinden?) – Kai? toßte me? tiß maxairophßrouna, poßia geußsh (Und dann, mit welchem Besteck, mit welchem Geschmacksinn) - jaß peridromiaßzoume (werden wir fressen - ÄOlew eökeiqnew tißw eöcaißretew sunjhqkew; (all diese ausgezeichneten Umstände?). Um den Schluss zu ziehen, dass es sich um eine Weltkomödie handelt. Tiß kosmvdißa tiß kosmvdißa. Das Versprechen des orthodoxen Glaubens ist also nur ein unnützes Geschenk, wie die Überschrift dieses Gedichtes verrät.
Auch die Karwoche gibt unserer Lyrikerin Anlass, die menschlichen Leiden mit denen Christi in Wechselbeziehung zu stellen. Alles wird hier vermenschlicht, kein Hauch von der überlieferten orthodoxen Mystik der Passion Christi bleibt bestehen. Pilatus ist in ihrem Gedicht mit dem Thema „Die Karwoche“, ein „Mensch, der seinen blauen Regenmantel anzieht und im Regen kein Taxi findet. Die Gewissen der Menschen werden alle in die gleiche Einbahnstrasse gedrängt, alle waschen ihre Hände in Unschuld - vor allem an solchen Tagen.“. Die orthodoxen Kirchen, die anlässlich der Karwoche überfüllt sind, dienen der Dichterin zu folgender Metapher „So werden auch die Gläser überfüllt bei unseren anderen Leiden, die wir feiern“. Selbst das größte Gebot des christlichen Glaubens, die Liebe zum Nächsten, wird hier auch ironisch in Frage gestellt. Denn sie glaubt nicht an die praktische Anwendung der Nächstenliebe, die die Evangelien und die Kirchenpsalmen verkünden. „Die Nächstenliebe verliert ihre göttliche Unmenschlichkeit – ihre göttliche Undurchführbarkeit“. Die Kirchen sind in den Tagen der Karwoche so voll, daß unsere Lyrikerin nicht hineinkommen kann, aber sie beschwert sich nicht. Das teteßlestai (Das Ende des Leidens Christ, sein Tod) will sie, wie sie sagt aus einer anderen Quelle erfahren, die sicherer ist. Im darauf folgenden Gedicht, das auch der Karwoche gewidmet ist, setzt Kiki Dimoula ihre ironische Umkehrung der biblischen Ereignisse fort. Sie findet in der Karwoche keinen Trost. Daher lautet der Haupttitel dieses Gedichtes öAparhgorißa (Untröstlichkeit), wieder ein lyrischer Neologismus. Die Karwoche, die so mit Bienenwachs und Votivgaben - in die abergläubische Erinnerung hineintropft – „in die gottlose Abwesenheit“. „Die vervielfältigten Gärten von Gethsemane“ sind für unsere Dichterin „Säulengänge der Geduld.“
Als gute Dichterin ist sie bemüht, keine überkommene Wahrheit, kein religiöses Dogma zu übernehmen. Sie will ihrem „inneren Auftrag“ folgend, die Wirklichkeit mit ihren eigenen Augen sehen. Und das, was sie sieht, ist zweifelhaft und ständig veränderbar. Daher die vielen verschiedenen Namen ihres lyrischen Ichs, die den Augenblicken entsprechen, in denen sie versucht, einen Augenblick, einen tieferen Aspekt der Wirklichkeit zu gewinnen. „Das ganze sichtbare Universum“, wie Baudelaire sagte, ist auch für sie „eine Vorratskammer von Bildern und Zeichen, denen die Einbildungskraft eine Stelle anweist und einen relativen Wert verleiht; es ist eine Art Nahrung, welche die Einbildungskraft verdauen und verwandeln muss“. Jedes ihrer Gedichte trägt seinen eigenen Namen, der dem jeweiligen lyrischen Augenblick entspricht und der einen weiteren Schritt in der Betrachtung der Dinge bedeutet. Diese innere Expedition zu mehr Wahrheit, bei der ihre Gedichte als Marksteine fungieren, ist für Kiki Dimoula ein unendlicher und schmerzlicher Kampf. Ihre Gedichte repräsentieren nach ihrer eigenen Ansicht ihre Niederlagen, ihre Wunden in diesem blutigen Kampf. Daher trägt jedes Gedicht seinen eigenen Namen und niemals „schreibt die eine die andere Wunde ab“. Dieser Weg ist für sie eine ständige Ermutigung, ihr wahres Wesen zu entdecken und entsprechend zu handeln. Alle ihre Gedichte vermitteln uns diesen unendlichen Kampf, der ein Kampf des verantwortlichen Lyrikers ist. Unsere Dichterin ist sehr bescheiden und triumphiert nicht beim Erfolg der genannten Expedition. Den Erfolg, den sie gewinnt, betrachtet sie als sehr mager. Keine große Errungenschaft, keine große Wahrheit, eher ein zweifelhaftes mhßpvw (Vielleicht). Dieses mhßpvw steht zwischen dem Ja und dem Nein, es ist das gewisse „Etwas“ ihrer Poesie. In einem sehr bewegenden Dialog zwischen ihr und ihrem inneren Ich wird sie von ihm ermutigt, diese Welt nicht in Angst und Panik zu verlassen, sondern ernst und tapfer soll sie ihre tausend Fenster verlassen, die sie auf der Suche nach diesem Vielleicht geöffnet hat. Ihr ganzes lyrisches Oeuvre ist eine echte Beichte, die uns mehr mit ihren Niederlagen als mit ihren Erfolgen, mehr mit ihrer Unwissenheit als mit ihrem Wissen vertraut macht. Und an diesem Punkt gewinnt ihre Dichtung eine universelle Bedeutung, die jeden aufmerksamen Leser anspricht. Der mit vielen Zweifeln und tausend Fragen zu seinem Ich beladene Mensch und seiner Bestimmung in der Welt fühlt sich durch die Dichtung Kiki Dimoulas angesprochen. Die Dichterin befasst sich in ihrem Werk, wie sie selbst uns sagt, nicht nur mit ihren Fragen, mit ihren Ängsten und Zweifeln sondern auch mit denen der anderen Menschen. „Bei meiner dichterischen Wanderung blieb ich ebenso lange bei den Gefühlen und Empfindungen der andern Menschen wie bei meinen eigenen stehen“. Perpaßthsa poluß staß aiösjhßmata – taß dikaß mou kaiß tvqn aällvn. Mit ihrer Dichtung hat sie einen inneren Dialog nicht nur mit sich selbst sondern auch mit den anderen Menschen und Dingen eröffnet. Die sich ständige verändernde Welt der Phänomene ist ihr fremd. Sie fühlt sich in einer fremden Umgebung, aus der sie nicht flüchten kann. Alles ist ihr fremd. „Der Regen ist fremd, der Herbst ist fremd“, sie entdeckt überall eine totale Wüste. Sie fühlt sich fremd in diesen fremden menschlichen Beziehungen und gefangen. Selbst das Schreiben muss in dieser Fremde leben. Selbst das Gedicht, das absolut ihr eigener Besitz ist, ist zu dieser Fremde verurteilt.
Kiki Dimoula setzt mit dem unendlichen Reichtum ihrer Sprache, ihrer Bilder, ihrer Metaphern und den entsprechenden Wortkombinationen und –assoziationen den Leser ständig in Erstaunen. Sie ist bemüht, diesen Kosmos, diese reale Wirklichkeit von allen Seiten zu beleuchten und zu verstehen. Bescheiden stellt sie fest, dass sie nichts Großes geleistet hat. Wie bereits angedeutet, liebt sie nicht die großen Worte und in ihrer Dichtung fehlt der triumphierende Ton. Sie ist die Dichterin der leisen Stimme, die lieber im Hintergrund, in der Verborgenheit leben will. Darüber spricht am deutlichsten ihr Gedicht mit dem Titel „ öElaßnjane (Lebte verborgen), das sich auf ihre Lebensweise bezieht. „Ich war ein Mensch“, sagt sie, „der immer gesenkten Hauptes ging“. Sie hatte immer das Gefühl der Niederlage. Aber sie hat trotzdem mit eigner Kraft aus dieser gebeugten Haltung im Leben „nach dem Himmel geschaut“. Mit „Himmel“ meint sie bestimmt die innere Welt ihrer Dichtung. Sie ist ihr großes verborgenes Eigentum. Und diesen Himmel schuf sie nicht aufrechten Hauptes und mit großen Tönen, sondern verborgen in ihrer Einsamkeit. Diesen Himmel schuf sie auch mit ihren Niederlagen, und sie war stets bemüht, etwas von den verschwindenden Dingen zu retten. Das ist ihr eigentlicher Beitrag, der ihr unantastbar bleiben wird. Sie vermochte mit ihrem dichterischen Impetus das Wesen der Dinge und der Phänomene nicht zu ergründen. Nach ihrem langen lyrischen Kampf musste sie feststellen, dass das nicht möglich ist. Aus dem inneren Drang, zu wissen, wurde sie eine Liebhaberin der Unwissenheit, und die ist ihre sicherer als jede Sicherheit. Daher ihre Überzeugung: „Das Wesen der Phänomene kann man nicht bestimmen – man kann sie nicht ohne Vorbehalt nennen. Trotzdem hat sie diesen Kampf nicht aufgegeben. Sie ist immer auf der Suche nach der anderen Seite der Dinge und des Alltags. Sie ist eine öAcedißyasth (ständig Durstige) nach einer höheren Wahrheit, nach diesem „Etwas“, das man nur durch die lyrische Einbildungskraft und die Illusion erreichen kann. Und dieses „Etwas“ ist das Novum, das sie in die neugriechische Poesie durch eine neue Ausdrucksweise, getragen hat, zugleich ein Ansporn für diese Sprache, sich ständig zu erneuern. Ihr lyrisches Werk brachte eine Brise in die neugriechische Poesie, durch die die alltäglichen Dinge und der menschliche Alltag zu einem neuen Ziel gefunden haben.
In Anerkennung dieser Leistung wurde Kiki Diomoula 2003 zum Ordentlichen Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Athen gewählt. Ihre Antrittsrede anlässlich der feierlichen Aufnahme in die genannte Hohe Anstalt bildet das lyrische Credo unserer Dichterin. Daher wollen wir diese Rede an dieser Stelle, ins Deutsche übertragen von Dadi Sideri-Speck, wiedergeben. An dieser Stelle möchte ich meinem langjährigem Freund, Dr. Guntram Beckel, für seine Korrekturvorschläge zu dieser Übersetzung danken. Anschließend wird hier eine kleine Leseprobe aus dem griechischen Original abgedruckt.