Die Begegnung von Franz Lieber mit Ioannis Kolettis im Jahre 1822


Wolfgang Decker, Köln
Joachim K. Rühl zum 31.3.2004


Franz Lieber (18.3.1797-2.10.1872)1 war einer der ersten Turner auf dem Turnplatz Jahns in Berlin auf der Hasenheide und im Jahre 1817 zusammen mit H. F. Maßmann auch dessen Leiter.2 Sein Verhältnis zum Begründer der Turnbewegung war sehr eng, aber auch insofern unglücklich, als er ein Heft mit ‘Goldsprüchlein aus Vater Jahns Mund’ anlegte, das im Jahnprozess als corpus delicti gegen den Turnvater verwandt wurde.3 Die Koedition eines Liederbuches oppositionellen Inhaltes war ausreichend, Lieber in Haft zu nehmen, zumal er Beziehungen zur Burschenschaft pflegte, deren Mitglieder infolge der Karlsbader Beschlüsse von 1819 während der Demagogenverfolgung heftig bekämpft wurden. Ein in Preußen ausgesprochenes Berufsverbot sowie eine erneute Haft bewogen Lieber, zu emigrieren und über London 1827 nach Amerika zu gehen, wo er als Herausgeber der Encyclopedia Americana es zu hohem Ansehen brachte.4
Ioannis Kolettis5 (1784-1847) war einer der führenden Personen des griechischen Freiheitskampfes, der 1821 mit dem Aufstand gegen die osmanische Fremdherrschaft begann und 1832 mit der internationalen Anerkennung der griechischen Autonomie sowie 1833 mit der Errichtung der griechischen Monarchie unter dem ersten König Otto I. endete. Kolettis war von Anfang an beim Aufstand dabei und bekleidete bereits 1822 in der Regierung Ypsilantis, der kaum mehr als einem Schattenkabinett vorstand, das Amt des Innenministers, das er nach Gründung des griechischen Staates im Jahre 1833 wieder einnehmen sollte. Nach seiner Rückkehr aus Paris, wo er den Posten des griechischen Botschafters bekleidet hatte, avancierte er im Jahre 1844 sogar zum Ministerpräsidenten seines Heimatlandes.6 Sein im Jahre 1835 an den König gerichtetes Memorandum mit dem ausgefeilten Vorschlag eines Nationalfestes nach dem Muster der antiken panhellenischen, insbesondere der Olympischen Spiele, stellt den ersten schriftlich ausgeführten Entwurf zu Olympischen Spielen der Neuzeit dar7, wie sie dann zwei Generationen später von Pierre de Coubertin im Verlaufe des Kongresses von 1894 in der Sorbonne von Paris als alle vier Jahre wiederkehrendes internationales Sportfest beschlossen wurden.
Es war bislang in der Sportgeschichte völlig übersehen worden, dass Franz Lieber, ein führendes Mitglied der Frühen Turnbewegung, und Ioannis Kolettis, in seiner Eigenschaft als Auftraggeber des erwähnten Memorandums ein bislang unbekannter Akteur der frühen Olympischen Bewegung, einander begegnet und im wahrsten Sinne des Wortes engen Kontakt gepflegt haben.
Quelle ihres Zusammentreffens ist das Tagebuch Liebers8, das dieser 1823 bei Brockhaus in Leipzig herausgeben konnte und das seine Erlebnisse in Griechenland umfasst, die er zu Anfang des Jahres 1822 als Philhellene und Freiwilliger, der sich der griechischen Aufstandsbewegung anschließen wollte, gehabt hat.
Lieber schifft sich am 10. 1. 1822 zusammen mit dreiunddreißig Gesinnungsgenossen (6 Franzosen, 3 Polen, 25 Deutsche) in Marseille ein9, um elf Tage später in Pylos in der südwestlichen Peloponnes (damals: Navarino) vor Anker zu gehen.10 Der gesamte Bericht atmet die Enttäuschung des Kriegsfreiwilligen, der wegen der griechischen Unterlegenheit und Unentschlossenheit nicht zum Einsatz kommt, ist aber auch von heftiger Kritik an den seiner Meinung nach teilweise chaotischen Zuständen des damaligen Hellas erfüllt. Dabei entrüstet Lieber sich weniger über den Kontrast zwischen altem und neuem Griechenland, das aus dem Blickwinkel des neuhumanistischen Ideals, nach welchem er erzogen war, nur zugunsten des alten Griechenlands ausgehen konnte, als vielmehr über die angebliche Unmoral der modernen Griechen, bei denen Diebstahl sowie Lug und Trug an der Tagesordnung gewesen seien. Auch heute noch ist sein Reisebericht ein bewegendes Dokument aus der Zeit der modernen griechischen Frühgeschichte, als die Einnahme von Tripolis den Griechen Handlungsfreiheit auf der Peloponnes verschafft hatte und sich die Katastrophe von Mesolongi noch nicht abzeichnete. Der Gerechtigkeitssinn des Autors, der im gesamten Bericht waltet, ist eindrucksvoll.
Am 29.1.1822 macht sich der Trupp, der entgegen seiner Erwartung nicht gegen die unweit gelegene Festung Methoni (Lieber nennt es der damaligen Ortsbezeichnung entsprechend Modun) zum Einsatz kam, auf den Weg über Kalamata nach Tripolis.11 Über Argos erreichte man am 16.2.1822 Korinth, den Sitz des „Senates“ unter Ypsilantis, der provisorischen Regierung. Lieber ist von der landschaftlichen Schönheit der Gegend um Korinth beeindruckt, bemerkt aber auch, dass man die überwiegend aus Holz gebauten türkischen Häuser abgerissen hat, um sie als Brennmaterial zu verfeuern. 12
Am 17.2.1822 findet eine erste Begegnung mit Kolettis13 statt, der damals 48 Jahre alt war. Lieber schreibt:
Nachmittag gegen zwei Uhr gingen wir, der gestrigen Abrede gemäß, zum Minister des Innern, Koletti, der jetzt in Abwesenheit des Kriegsministers dessen Amt besorgte. Ein Kaufmann aus Salona,14 Anagnosti Jajidsis, erzählte mir, daß Koletti früher in der Gegend von Dseitun15 Kaufmann gewesen sey. Herr Karboni, Polizeivorsteher in Messolongi, gab ihn für einen Arzt aus. Er mag nun gewesen sein, was er will, so kann ich nicht leugnen, daß er sich in eine anständige Haltung zu uns zu finden wußte. – Er wohnte in einem kläglichen blutbesudelten Hause16, wie wir anderen. – Der Oberst stellte ihm vor, wie alle hier versammelten, fast alle Offiziere, keine andere als die gerechte, ziemende Bitte hätten, daß man ihnen Waffen gäbe, um Akroathäa zu stürmen. Alle seien der Untätigkeit überdrüssig. Der Minister beschied, nachdem er wieder die Franken17„die Kraft des Senates“ genannt hatte, uns alle zu morgen um diese Zeit wieder zu sich, um den bestimmten Entschluß des Senats zu vernehmen. Die Gespräche wurden italienisch geführt.18
Das hier durchaus positiv gezeichnete Bild von Kolettis wird an anderer Stelle nicht so vorteilhaft gesehen. Am folgenden Tag (18.2.1822) wurde der von Kolettis avisierte Beschluss des Senats um einen weiteren Tag verschoben.19 Lieber mokiert sich sodann über das Ergebnis eines Besuches von Kolettis beim Oberst der Freiwilligen (18. 2. 1822), das im Entwerfen von Uniformen bestand.20 Er äußert auch einen Verdacht, der Kolettis in kein gutes Licht stellt:
Ging diese Spielerei von Koletti als Köder für den Oberst und uns aus, so war es eine entehrende Sache, und man sagte sodann auf sehr unverhohlene Weise: wir halten Euch für eingetrocknete Kamaschendiener, für Paradepuppen, aber nicht für Krieger, wir wollen Euch nicht gebrauchen.21
Am 22.2.1822 steht die Schar der Freiwilligen dem Kapitän Nikitas bei gegen eine Gruppe von Bauern, die das Haus des griechischen Clan-Führers nicht ohne Grund mit Gewehrfeuer unter Beschuss nehmen.22 Zufällig kommt Kolettis in dieser Situation des Wegs und wird auf die versprochenen Waffen angesprochen. Seine hinhaltende Antwort wird von Lieber mit verhaltener Kritik bedacht.23
Ende Februar warnt Kolettis die Freiwilligen vor einem Sturm auf Athen, den diese seit längerem diskutierten.24 Und noch ein letztes Mal kommt Lieber mit dem provisorischen griechischen Innenminister zusammen, als er am 28.2.1822 mit vielen anderen auf die Festung Akrokorinth steigt, um aus den dort gelagerten Vorräten Decken und Kochgeschirr zu requirieren. Von diesem letzten Zusammentreffen mit Kolettis berichtet Lieber:
Das Thor war verschlossen, und nach und nach versammelte sich eine Anzahl von Bauern, um Beute zu holen. Es wurde geöffnet, und nun entstand ein gewaltiges Gedränge. Die Minister des Auswärtigen, Negris und Koletti, wurden gar nicht beachtet, sondern, wie wir, gedrückt. Nach vieler Mühe gelang es letzterem, in das Thor zu kommen, und hätte er mir nun nicht seine Hand gereicht, so wäre ich gezwungen gewesen, ohne die Festung gesehen zu haben, umzuzkehren.25
Am 2.3.1822 verlässt Lieber mit einem Kameraden zu Schiff Korinth, da er sich völlig überflüssig vorkommt und auch seine Geldreserven auszugehen drohen. Er fährt im korinthischen Golf an die Küste von Krissa unweit von Galaxidi und begibt sich mit seinem Begleiter nach Salona, dem heutigen Amphissa, wo sie bei einem jungen Arzt (den sie als Scharlatan ansehen müssen) Unterkommen finden. Von hier aus haben sie einen Blick auf das hoch gelegene Delphi:
Man sah selbst Kastri, das alte Delphi. Eine ernste Erscheinung, wie in den unveränderlichen, unzerstörten Felsmassen jetzt ein unachtbares Dörflein lag, wohin weiland das ganze Alterthum, Rath zu holen, wallte. Ganz öde und still war es da, wo einst die rüstigen Spiele gespielt wurden, und Pindars Oden erklangen, und wo der Völker Bestes, was Kunst und Schätze boten, dargebracht wurde.26
Von dort aus geht es am 11.3.1822 weiter nach Mesolongi, wo man nach schwierigem Weg am 15.3.1822 eintrifft. Nach einem gescheiterten Versuch, mit dem jugendlichen Sohn des Freiheitshelden Kolokotronis in Verbindung zu treten, segelt Franz Lieber am 21.3.1822 nach Ancona, das man nach neuntägiger Fahrt erreicht. Dort mussten die Passagiere erst einmal eine 41tägige Quarantäne aus Furcht vor Einschleppung der Pest überstehen, bevor sie weiterreisen durften. Lieber ging bekanntlich erst einmal nach Rom, wo er im Hause des preußischen Gesandten Niebuhr, der auch später sein Protégé bleiben sollte, eine Stelle als Hauslehrer bekleidete, ehe er in die Heimat zurückkehrte.
Der junge Franz Lieber, bedeutender Exponent der frühen Turnbewegung, war auf seiner in philhellenischer Mission unternommenen Fahrt nach Griechenland, wo er nicht zum geplanten Einsatz für die Befreiung des Landes von der osmanischen Fremdherrschaft kam, mit dem Innenminister Ioannis Kolettis, der als Erster einen exakten Plan für moderne Olympische Spiele veranlasst hat, mehrere Male zwischen dem 17.2. und 28.2.1822 in Korinth zusammengetroffen – aus sporthistorischer Sicht eine fürwahr denkwürdige Begegnung.

 

Anmerkungen
1 In der Sekundärliteratur werden verschiedene Daten im Zusammenhang mit Geburt und Tod genannt. Auf die genauen Tagesdaten legt sich fest Beckmanns Sportlexikon A-Z, Leipzig/Wien 1933, 1541 [E. MEHL].
2 Vgl. J.B. RICHTER, Hans Ferdinand Maßmann. Altdeutscher Patriotismus im 19. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker 100 [224]), Berlin/New York 1992, 70.
3 Vgl. dazu auch H. BERNETT, Friedrich Ludwig Jahn als Revolutionär?, in: Kölner Beiträge zur Sportwissenschaft 7 (1978) 19-27. Hier wird ein handschriftlicher Vermerk in einem Exemplar des Deutschen Volksthums von Jahn aus der Feder Liebers analysiert und als Beweis für Jahns revolutionären Geist bewertet.
4 Zur Person Lieber vgl. A. KIRSCH, Franz Lieber. Turner, Freiheitskämpfer und Emigrant, 1798-1830, Diss. Köln 1953 (unveröff.); E. GELDBACH, Die Verpflanzung des deutschen Turnerns nach Amerika: Beck, Follen, Lieber, in: Stadion 1 (1975) 331-376, bes. 359-376; Kl. C. WILDT, Auswanderer und Emigranten in der Geschichte der Leibesübungen (Beiträge zur Lehre und Forschung der Leibeserziehung 19), Schorndorf 1964, 49-51; F. LÖBKER, Antike Topoi in der deutschen Philhellenenliteratur. Untersuchungen zur Antikenrezeption in der Zeit des griechischen Unabhängigkeitskrieges (1821-1829) (Südosteuropäische Arbeiten 106), München 2000, bes. 200-203, 213f., 257-259. Siehe jetzt auch St. WASSONG, Franz Lieber: Vom deutschen Turner zum amerikanischen Wissenschaftler, in: A.R. HOFMANN/M. KRÜGER (Hg.), Südwestdeutsche Turner in der Emigration, Schorndorf 2004, 53-67.
5 E. HÖSCH, in: R. BAUMSTARK (Hg.), Das neue Hellas. Griechen und Bayern zur Zeit Ludwigs I., München 1999, 184. Siehe bald (unter Verweis auf archivarische Quellen) A. KIVROGLOU, Die Olympien im 19. Jahrhundert in Griechenland: Entstehung, Gründung und wirtschaftspolitische Aspekte bei der Einführung der griechischen Nationalfeste, Diss. Köln 2002 (i. Dr.), S. 81-89. – Eine gute Charakteristik von Kolettis geben die Briefe von Bettina Schinas aus den Jahren 1834 und 1835, meist aus Athen: R. STEFFEN (Hg.), Leben in Griechenland 1834 bis 1835. Bettina Schinas, geb. Savigny, Briefe und Berichte an ihre Eltern in Berlin, Münster 2002, die betreffenden Stellen im Personenregister S. 309 verzeichnet.
6 E. TURCZYNSKI, Sozial- und Kulturgeschichte Griechenlands im 19. Jahrhundert von der Hinwendung zu Europa bis zu den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit (Peleus. Studien zur Archäologie und Geschichte Griechenlands und Zyperns 16), Mannheim/ Möhnesee 2003, 299-323.
7 W. DECKER, Praeludium Olympicum. Das Memorandum des Jahres 1835 von Innenminister Ioannis Kolettis an König Otto I. von Griechenland über ein Nationalfest mit öffentlichen Spielen nach dem Muster der antiken panhellenischen Agone (i.Dr.).
8 F. LIEBER, Tagebuch meines Aufenthaltes in Griechenland während der Monate Januar, Februar und März im Jahre 1822, Leipzig 1823.
9 LIEBER, Tagebuch, 1.
10 LIEBER, Tagebuch, 2f.; an Land ging man erst am 22.1.1822, ibid. 6f. – In der Bucht von Navarino wurde am 20.10.1827 die türkische Flotte vernichtet und ein entscheidender Durchbruch für die griechische Freiheit erreicht.
11 Dabei wird auch das Tal des Alpheios berührt. Lieber schreibt (Tagebuch, 56): „Es ging hernieder in das Thal des Alpheus. – Da floß er hin, an dem sich weiland ein freies, frohes Geschlecht versammelte zum schönsten Volksverkehr, den die Geschichte kennt.“ Das ist die einzige Anspielung auf Olympia, das man nicht passierte, im ganzen Tagebuch.
12 LIEBER, Tagebuch, 102.
13 Lieber nennt ihn immer Koletti entsprechend der italienischen Herkunft des Namens. Im Griechischen muss dem Namen die Endung -s- beigefügt werden.
14 Das heutige Amphissa.
15 Ein türkischer Ortsname, ‚Olive’ bedeutend; das heutige Lamia.. Nach heutiger Auffassung stammte Kolettis aus Sirrakon in der Nähe von Ioannina im Epirus.
16 Das Blut stammte von den getöteten Türken.
17 Gemeint sind die europäischen Freiwilligen, die zur militärischen Unterstützung der Griechen nach Korinth gekommen waren.
18 LIEBER, Tagebuch, 108.
19 LIEBER, Tagebuch, 114. – Am Abend des Vortages kommt Lieber während des Wartens auf Kolettis in eine gefährliche Situation, als ihm eine Kugel durch die Kleidung dringt, ohne ihn jedoch zu verletzen. LIEBER, Tagebuch, 113.
20 LIEBER, Tagebuch, 114.
21 LIEBER, Tagebuch, 115.
22 LIEBER, Tagebuch, 126-129.
23LIEBER, Tagebuch, 128f.
24 LIEBER, Tagebuch, 131.
25 LIEBER, Tagebuch, 136. S. 143 spricht Lieber von der Festung Akrokorinth als Ort eines geplanten Krankenhauses, dessentwegen Apotheker und Ärzte sich bei Kolettis zur Beratung einfinden.
26 LIEBER, Tagebuch, 156. – Ein Ausflug in das unweit gelegene Dorf, das damals noch auf den Ruinen von Delphi stand, scheiterte jedoch an der in Salona [= Amphissa] drohenden Inhaftierung der Akteure: LIEBER, Tagebuch, 163 – Die französischen Grabungen setzten erst im Jahre 1892 ein; damals wurde das Dorf Kastri, das in den Ruinen von Delphi entstanden war, in die unmittelbare Nähe umgesiedelt.