Paraskevi Sidera-Lytra
Wie bei den anderen ausländischen Arbeitnehmern, so wächst auch bei
den Griechen die «dritte Generation» in der Bundesrepublik heran;
trotzdem scheint die Frage nicht unberechtigt, ob man als Einheimischer diese
Ausländergruppe inzwischen besser kennt oder ob man sie nach wie vor als
einen rätselhaften Fremd¬körper im eigenen Leibe betrachtet.
Dass die Ausländer, in unserem Fall die Griechen, nicht nur arbeitende
Hände sind, hat man inzwischen eingesehen und eingestehen müssen;
dass sie aber eine eigene Identität und Lebensweise besitzen, die sie mit
ihrer Einreise in die Bundesrepublik nicht einfach hinter sich lassen können,
hat man m.E. nicht gebührend berücksichtigt.
Diese Identität ist das Ergebnis eines langwierigen Prozesses, in dem unterschiedliche
landschaftliche und soziokulturelle Komponenten zusammengefunden haben. Das
Verhalten und Handeln des Griechen richtet sich nach der erworbenen Identität,
nach dem, was er unter der Einwirkung zahlreicher formender Faktoren bereits
geworden ist. Die einheimische Gesellschaft aber, die gleichfalls ihre eigene
Identität besitzt, stellt den An¬spruch bzw. hegt die Erwartung, dass
der Fremde die hierzulande übliche Verhaltensweise zeigt. Die Umstände,
unter denen sich die Identität des Fremden gebildet hat, sind den breiten
Schichten der hiesigen Bevölkerung weitgehend unbekannt. Der Fremde kennt
zwar allmählich notgedrungen die Andersartigkeit der deutschen Gesellschaft
kennen, weil er jahrelang in ihr lebt; er selbst und seine spezifische Art bleiben
im großen und ganzen unbekannt, eine Tatsache, die leicht zu vielen Missverständnissen
und zur Missbilligung, wenn nicht zur Ablehnung, seiner Verhaltensweisen führt.
Um diese Missverständnisse und vielleicht die darauf beruhenden Vorurteile
abzubauen, ist eine Unterrichtung der einheimischen Bevölkerung über
das Leben der Griechen in der Heimat von besonderer Be¬deutung. So wird
man in die Lage versetzt, ihre Verhaltensweise bes¬ser zu verstehen und
zu akzeptieren. Denn das Verhalten in der Fremde ist eine Projektion des Lebens
in der Heimat.
Der Begriff der Kontinuität ist von der Identität des Einzelnen, von
der Ich- Identität, nicht trennbar. Man weiß, wer man ist und was
man will und lässt nicht zu, dass sein Identitätsgefühl zerrissen
wird und verloren geht. Man hat die Fähigkeit, auf die Frage «wer
bin ich?» die Antwort zu geben: «Ich bin das, was ich gestern war
und was ich morgen sein werde». Die Gesellschaft mag an ihm so viele neue
Anforderungen stellen, wie sie will, man kann sich trotzdem an einer kon¬tinuierlichen
unverwechselbaren Identitätslinie halten. Ich möchte behaupten, dass
der Grieche an jedem Ort und Land, in dem er sich befindet, bewusst oder unbewusst
diese «Balance» stets zu halten versucht, damit er den erwarteten
und unerwarteten neuen Anforderungen der Gesellschaft gerecht werden kann; er
übernimmt das neue und passt sich an, während er sich aber gleichzeitig
an seiner in der Heimat erworbenen und mitgebrachten Identität festklammert
und in seinem Inneren das bleibt, was er war, und lässt sich nicht so leicht
aus dem Gleichgewicht bringen. Individuelle Unterschiede sind natürlich
nicht auszuschließen. Der griechische Mensch wird hier nicht unter dem
Aspekt seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse mit angeborenen und
festen tiefwurzelnden körperlichen und psychischen Merkmalen, sondern als
Mitglied einer Gruppe von Menschen betrachtet, die in einem bestimmten Land
leben und im ganzen ein gemeinsames Schicksal hatten und haben. Es versteht
sich, dass der Beeinflussungseffekt der im Folgenden zur Sprache kommenden Faktoren
bei Menschen von unterschiedlichem sozialen Status verschieden ist. –
Und die Eigenständigkeit jeder einzelnen Person darf selbstverständlich
nicht außer Acht gelassen werden.
In den folgenden Seiten wird der Versuch unternommen, die verschiedenen Umweltfaktoren
zu skizzieren, die die Identität des Griechen prägen und zu verschiedenen
Verhaltensweisen führen. Unter Umweltfaktoren verstehe ich sowohl die landschaftlichen
als auch die komplexen soziokulturellen Faktoren und die wechselseitig wirkenden
sozialgeschichtlichen Gegebenheiten, die die Identität des Griechen bei
ihrer Entstehung beeinflussen.
Zunächst werfen wir einen Blick auf die landschaftlichen Fak¬toren.
Die geographische Lage und die Beschaffenheit des Bodens sind zwei Komponenten,
die für Griechenland besonders charakteristisch sind. Aufgrund der geographischen
Lage und der langen Küstenstreifen erfreut sich Griechenland eines milden,
freund¬lichen Klimas. Die allen Himmelsrichtungen zugewandte, mehrere hundert
Kilometer lange Küstenlinie war von großem Vorteil nicht nur für
die Küstenbewohner, sondern auch für das angrenzende Binnenland. Während
die weit im Landesinneren auf den Bergen und in den Tälern wonenden Griechen
abgeschlossen von der übrigen Welt lebten, konnten die Küsten- und
Inselbewohner einerseits an Ort und Stelle fremde Menschen entweder als reisende
Kaufleute oder aber auch manchmal als Besatzungs¬herren kennen lernen und
andererseits sie selber den Weg übers Meer finden. Als Händler und
Geschäftsleute reisten die Grie¬chen bekanntlich seit der antiken Zeit;
"die Saat der Aktivität des Griechentums bringt Früchte oft auf
fremdem Boden", um mit den Worten eines griechischen Historikers zu sprechen
. Diese Worte gelten mutatis mutandis auch für die griechischen Arbeitsemigranten
von heute. Auf der anderen Seite aber fristeten die Bewohner des Binnenlandes
in vielen Gegenden unter schweren Naturbedingungen ein kümmerliches Dasein.
Die Beschaffenheit des Bodens ist ungünstig. Ein Blick auf die Landkarte
Griechenlands zeigt, dass den größten Teil der Bodenfläche Berge
bedecken; der Agrarbevölkerung steht nur ein relativ geringer Teil flacher
fruchtbarer Ebene zur Verfügung. Ausserdem entfällt auf jede Agrarfamilie
ein kleiner Boden¬anteil. Und gerade aus solchen Gegenden sind viele ausgewandert
– nicht nur in den letzten Jahrzehnten nach Deutschland, sondern schon
Anfang des 20. Jahrhunderts bis zu den fünfziger Jahren zunächst nach
Nordame¬rika und später nach Australien. Dadurch ist selbst eine eigene
Gattung von Volksliedern seit Jahrhunderten entstanden, die Lieder der Fremde,
die von den Leiden und der Nostalgie der in der Fremde lebenden und derer, die
auf sie zu Hause warten, sprechen.
Bis zuletzt fehlte die Moder¬nisie¬rung im agrarwirtschaftlichen Bereich,
und industrielle Einrichtungen gibt es immer noch fast nur in den wenigen Großstädten,
so dass die Landbevölkerung davon nicht unmittelbar profitieren konnte.
Entweder musste sie in die Stadt ziehen oder ... auswandern. Dadurch ist unter
anderem z.B. auch der Wunsch des griechischen Bauers zu verstehen, seine Kinder
unter Selbst¬aufopferung studieren zu lassen, damit sie nicht "bodenabhängig"
bleiben. (Darüber wird weiter unten aus¬führlicher die Rede sein).
Um die soziokulturellen Faktoren und ihre Rolle bei der Bildung der Identität
des Griechen einiger¬maßen zu bestimmen, muss man kurz den Charakter
und die Funktion der griechischen Familie, der Schule, der Kirche und nicht
zuletzt des griechischen Staates erörtern.
Ich möchte im Folgenden diese Lebensformen kurz zu skiz¬zieren und
zu erläutern versuchen: Zunächst die griechische Familie: Die griechische
Familie gehört immer noch zu einem erheblichen Teil – besonders in
der Provinz – dem Typus der Großfamilie an. Als weitere Charakteristika
sind vor allem zu nennen: Ihre Traditionstreue, Gebundenheit an die Vergangenheit,
an tradierte Normen, die gegenseitige Unterstützung der Mitglieder einer
Großfamilie, die nicht selten die Form einer Sippensolidarität annimmt,
und nicht zuletzt ihre Autorität. (Was das letzte Charakteristikum betrifft,
möchte ich vorweg die Einschränkung machen, dass es sich zum größten
Teil um den Eindruck der ersten Konfrontation handelt. Wir kommen weiter unten
noch mal darauf zurück).
Die Gebundenheit an die Tradition und die überlieferten Sitten und Normen
wurden in der Provinz bis zuletzt dadurch be¬günstigt, dass die Menschen
in den meisten Ortschaften aus Man¬gel an Kontakten mit der übri¬gen
Außenwelt in einer geschlossenen Gesellschaft gelebt haben, da die Verbindung
durch moderne Verkehrsmittel und mithin die Kommunikationsmöglichkeiten
fehlten. Man darf sagen, dass der Grad der Loslösung von der Tradition
eines Ortes an dem Grad seiner Verbindung mit der Außenwelt gemessen werden
kann. Die Arbeiterfamilie in der Stadt blieb bis zuletzt ebenfalls an die überlieferten
Kulturnormen gebunden. Ihr Leben war durch die Existenz- bzw. Behauptungsangst
und vor allem durch die Abwehr bestimmt, gegen die Tendenz der höheren
Schichten, ihre – meistens aus dem Ausland importierten – Kulturwerte
und Lebensweisen als die besseren hinzustellen. Es versteht sich von selbst,
dass Kulturwerte, nach de¬nen man Jahrzehnte lang sein Leben gestaltet hat,
nicht von heute auf morgen über Bord geworfen werden können. Dies
betraf die städtische wie die ländliche Bevölkerung im gleichen
Maße. (Es gilt allerdings nicht ganz für die heutige junge Generation,
die unter dem Einfluss der internationalen Massenmedien lebt).
Besonders stark ist in der griechischen Familie das Gefühl des Zusammenhalts
und der Verpflichtung zur gegenseitigen Unterstützung. Ihre solidarische
Haltung wird unter anderem auch dadurch bezeugt, dass die Menschen nicht nur
ihre Kinder in ihren Bemühungen, ihre soziale und wirtschaftliche Lage
zu verbessern, auf selbstlose Weise unterstützen, sondern auch entfernter
Verwandte. Und so ist es oft in Griechenland auch in der Vergangenheit vorgekommen,
dass arme Familien große Opfer aufbrachten, um ihren Kindern ein Hochschulstudium
zu finan¬zieren.
Deshalb ist dort überhaupt keine Seltenheit, dass Hochschul¬lehrer
wie auch Inhaber von höheren Ämtern im Staatsdienst und in anderen
Institutionen studierte Mitglieder solcher armen, zumeist ländlichen Familien
sind. Auch unter den griechischen "Gastarbeitern" gibt es viele, die
mit einem Teil ihres Arbeitslohnes ein Studium ihrer Kinder in Griechenland
oder hier in Deutschland finanziert haben oder noch finanzieren.
Bezüglich der Autorität der griechischen Familie kann man folgendes
sagen: Die Mutter unterlag der Souveränität des Vaters. Ihm stand
im Allgemeinen das Entscheidungsrecht zu. Sie hatte zwar im innerfamiliären
Raum mitzubestimmen, die Be¬ziehungen zu der Außenwelt - sowohl für
die Mutter als auch für die Kinder - wurden jedoch vom Vater bestimmt.
Damit haben wir aber zugleich das wichtige Problem der Geschlechterrolle in
der griechischen Familie ange¬sprochen. Es gilt dabei zu unterscheiden,
wie die Familienväter einerseits als Männer die Rolle der Frau sahen,
andererseits wie die Frauen sich mit dieser ihrer Rolle abfanden, und ferner
wie die Kinder auf die unterschiedliche Erziehung reagierten, die sie ihrem
Geschlecht entsprechend erhielten. Bemerkenswert erscheint, dass die Frau als
Ehefrau die Rolle des Mannes als Familienoberhaupt anerkannte und seine Ansichten
teilte, soweit sie die Rolle der Familienmitglieder betraf. Die Rolle als Musterfrau,
die die Gesellschaft von ihr verlangte, verlangte sie nunmehr als Mutter von
ihren Töchtern.
Das darf aber keineswegs dahin gedeutet werden, dass die griechischen Väter
für ihre Kinder je nach Geschlecht unterschiedliche Bildungswünsche
hätten. Man kann mit Sicherheit sagen, dass sie seit Jahrzehnten keinen
geschlechtsspezifischen Unterschied zwischen Söhnen und Töchtern hinsichtlich
ihrer Ausbildung machten oder unterschiedliche Erwartungen und Bildungswünsche
hätten. Alle Familien stellten dieselben Anforderungen an Jungen und Mädchen
in Bezug auf ihre Leistungen in der Schule, und alle wollten ihre Kinder unabhängig
von ihrem Geschlecht studieren lassen. Das war zwar vor hundert oder achtzig
Jahren nicht so; man kann aber die Änderung der Ansichten diesbezüglich
in der Gesellschaft eines bestimmten Dorfes mit etwa 1500 Einwohnern anschaulich
machen. Anfang des 20. Jahrhunderts besuchte die Volksschule des Dorfes nur
ein einziges Mädchen unter den vielen Jungen; Anfang der fünfziger
Jahre waren nur vier Mädchen, die die Schule nicht besuchten. Anfang der
fünfziger Jahre wurden die ersten drei Mädchen aufs Gymnasium geschickt.
Ende der fünfziger Jahre gab es die erste Studentin im Dorf. Und heute
sind unter den Dutzenden von Studenten die Mädchen in der Mehrheit, während
viele andere inzwischen als Akademikerinnen wirken – auch in Bereichen,
die bislang von Männern dominiert wurden. Vor kurzem wurde z.B. eine aus
dem Dorf stammende junge Diplom-Landwirtin vom Griechischen Agrarministerium
als einzige Repräsentantin Griechenlands zu einem Weltkongress nach Zürich
geschickt.
Aber nicht nur im innerfamiliären Raum, sondern auch auf gesellschaftlicher
und gesetzgeberischer Ebene, ist in Bezug auf die Gleichberechtigung der Frau
in Griechenland inzwischen vieles passiert. Seit Mitte der siebziger Jahre sind
viele Gesetze in Bezug auf die Gleichberech¬tigung der Frau geändert
worden und das Familienrecht wurde revidiert, so dass man es heute als "eines
der fortschrittlichsten" betrachten kann, um mit den Worten einer griechischen
Juristin zu sprechen. Die Gleichberechtigung beider Elternteile ist auch ge¬setzlich
verankert worden, und die frühere patriarchalische Familie ist nunmehr
zu einer sozusagen elterlichen Familie geworden. "Heute haben wir zwei
gleichberechtigte Eheleute (...) Das Gesetz (...) sichert die selbständige
Existenz und Entwicklung jedes Ehepartners. Und es sichert sie in folgender
Weise: Die Frau ändert nach der Eheschließung weder Namen noch Wohnort
noch Nationalität. In den gesetzlichen Beziehungen, ob sie das will oder
nicht, behält sie ihren Familien¬namen...Bei den gesellschaftlichen
Beziehungen gibt es das Recht der Auswahl für beide Eheleute. (...) Die
Kinder tragen jetzt nicht ohne weiteres den Namen des Vaters; das ist der Fall
nur wenn die Eltern vor der Eheschließung versäumt haben, vor dem
Notar, dem Standesbeamten oder dem Priester zu melden, welchen Namen sie ihren
Kindern geben würden. Dieser Nachname, den die Eltern vor der Eheschließung
melden, und der nicht widerrufen werden darf, kann der Name des einen Elternteils
oder eine Kom¬bi¬na¬tion der Nachnamen beider Elternteile sein"
.
Zum Schluss der Ausführungen über die Familie fühle ich mich
allerdings einer Erklärung schuldig in Bezug auf die viel diskutierte und
verschmähte auto¬ritäre Erziehung in der griechischen Familie,
die sich oft beim näheren Betrachten als eine nur scheinbar autoritäre
Erziehung entpuppt. Die autoritäre Behandlung der Kinder ist oft vom momentanen
emotionalen Zustand der Eltern, der Erwachsenen abhängig; ein Ausbruch
der inneren Aufregung, der manchmal auch zu einem oder mehreren kräftigen
Klapsen reichen kann. Sie ist aber nicht sachbezogen und konsequent. Es ist
möglich, dass sich die Haltung innerhalb von Sekunden ändert und zu
Gefühlsausbrüchen der Liebe umschlägt. Die griechische Familie
ist kinderorientiert. Das Kind ist das Zentrum der Sorgen und des Interesses.
Alles wird zurückgestellt dem Wohle des Kindes zuliebe. Die Kinder spüren
die Liebe bzw. die Schwäche der Eltern bei jeder Handlung. Die Eltern lassen
sich bewusst oder unbewusst an der Leine ihrer Liebe zu ihren Kindern führen
– eine fesselnde Liebe für beide Seiten. Solch eine Erziehung ist
zwar eine Erziehung mit emotio¬nalen Ausbrüchen bei momentanen explosiven
Situationen, die aber keineswegs als autoritär im Sinne eines Nordeuropäers
bezeichnet werden darf. Fernerhin werden die Kinder nicht von der Erwachsenengesellschaft
ausgeschlossen; die Kinder sind überall anwesend und manchmal bis zu vorgeschrittenen
Abendstunden.
Und nun etwas über die Schule, über das Bildungswesen in Grie¬chenland:
Die Schulpflicht beträgt auch in Griechenland neun Jahre. Die erste Stufe
stellt die so genannte Volksschule mit sechs Jahren dar; ihr folgt das dreijährige
Gymnasium als völlig unabhängige Schule. Bis zum Abschluss des Gymnasiums,
d.h. der neun¬jährigen Schulpflicht, ist die Schulbildung für
alle Kinder einheitlich und gemeinsam. Erst dann findet eine Differenzierung,
eine Trennung, statt. Nach dem Gymnasium gehen die Kinder entweder auf eine
Berufsschule oder auf das Lyzeum, das die letzte Stufe (die Oberstufe) der höheren
allgemeinen Schulbildung ist, und dessen Absolvieren die Voraussetzung für
das Studium an der Universität oder an einer Technischen Hochschule oder
höheren Fachschule ist. Das bedeutet aber nicht, dass man schon nach dem
Abitur mit einem Hochschulstudium beginnen kann. Erst das Bestehen einer Reihe
von Aufnahmeprüfungen, je nach Fachrichtung, ermöglicht ein Hochschulstudium.
Diese praktizierte Selektion erfordert Leistungen; um diesen Anforderungen gerecht
zu werden, sind das Auswendiglernen und die wörtliche Wiedergabe des Erlernten
in der Regel die alltägliche Beschäftigung der Schüler. Man lernt
für sich selbst und reproduziert das Gelernte. Es gibt Forscher, die der
Meinung sind, dass der Aufstieg von Kindern armer Familien durch die Bildung
gerade wegen dieses Schulsystems möglich ist. "Meist genügt das
Wissen von Lernstoff. Da das Lernsystem der griechischen Schule gerade den fleißigen
Memorierer prämiert, haben hier die Söhne armer Väter die Chance,
entweder ihre wirkliche Begabung oder die Rücksichtslosigkeit ihrer Streberei
oder ihr Geschick als Examensglänzer zu beweisen, womit sie sich in jedem
Fall als aufstiegsgeeignet qualifizieren" . Diese Mei¬nung müsste
man allerdings etwas relativieren.
Man muss aber gestehen, dass das kooperative Lernen, das eigenständige
Denken und Diskutieren durch die praktizierte Art des Lernens nicht gefördert
wird.
Als Konsequenzen dieser schulischen Realität betrachtet ein anderer Forscher,
E. Hadjimanolis, gewisse negative Eigenschaften der Griechen, die er in seinem
Buch erwähnt: "Mangel an kooperativer Bereitschaft", "Glauben"
des Griechen, "besser als der andere zu sein", und seine Neigung,
"wenig selbstkritisch zu sein". "Die Diskussion" der Grie¬chen
untereinander "dient der Überredung, nicht der Übereugung"
.
Wenden wir uns jetzt einem anderen Bereich, der Institution der Religion und
der Kirche in Griechenland zu. Die Griechen sind in ihrer Mehrheit orthodox.
Es gibt allerdings einen kleinen Prozentsatz Katholiken, besonders auf den ägäischen
Inseln, einen sehr geringen Teil von Griechen evangelischen Glaubens, sowie,
besonders in Nordgriechenland, einen Prozentsatz griechischer Staatsbürger
islamischen Glaubens, die in ihrer Mehrheit türkischer Abstammung sind
und auch nach der Befreiung Griechenlands im vorigen Jahrhundert in Griechenland
geblieben sind; es gibt ferner einen geringen Anteil griechischer Staatsbürger,
die jüdischen Glaubens sind – heute allerdings einen ziemlich kleinen.
Was die Orthodoxe Kirche in Griechenland betrifft, die vorherrschende Staatsreligion,
sollte man vielleicht für die nicht Kundigen eine Einzelheit erwähnen:
Abge¬sehen von dogmatischen Unterschieden zwischen der Orthodoxie und den
Westkirchen, die eher nur für die Theologen vom Interesse sind, fällt
dem Laien vielleicht die unterschiedliche Festsetzung der beweglichen Feiertage
auf. Kein Wunder, wenn die Griechen auch hierzulande z. B. Ostern eine oder
mehrere Wochen später als Katholiken und Protestanten feiern. Die griechische
Kirche nimmt nämlich als Grundlage für die Berechnung des Osterfestes
den so genannten Julianischen und nicht den Gregorianischen Kalender –
allerdings nicht für die Bestimmung des Tages der Geburt Jesu Christi,
wie die orthodoxe slawische Kirche.
Und nun kommen wir zu dem griechischen Staatswesen: Zunächst einiges über
die Entstehung des Neugriechischen Staates. Der neugriechische Staat ist erst
Ende der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts nach der Befreiung von den Türken
gegründet worden. Es ist allgemein bekannt, dass die Griechen nach dem
Untergang des byzantinischen Reiches mit der Eroberung Konstantinopels, des
heutigen Istanbul, im Jahre 1453 durch die Türken fast vier Jahrhunderte
lang ein schweres Untertanendasein führen mussten. Erst nach dem Aufstand,
der 1821 begonnen und bis 1827 gedauert hat, gelang es den Griechen, sich zu
befreien und einen unabhängigen Staat zu errichten mit zunächst sehr
bescheidenen Grenzen, die bis Thessalien reichten. Kreta, Nordgriechenland und
die östlichen ägäischen Inseln wurden viel später, erst
1912–13 nach den so genannten Balkankriegen befreit.
Auch vom 2. Weltkrieg wurde bekanntlich Griechenland nicht verschont, der für
die Griechen auch Spätfolgen hatte und sich zu einem Bürgerkrieg entwickelte,
der bis 1950 dauerte. Um eine Vorstellung vom Charakter des Staates zu gewinnen,
in dem die Griechen in den letzten 60 Jahren lebten, muss man einen Blick auf
die politische Geschichte Griechenlands in dieser Periode werfen. Das Ende des
Zweiten Welt¬krieges bedeutete, wie angedeutet, für Griechenland nicht
gleich¬zeitig Frieden.
Ende 1944 entstand eine be¬drohliche Lage in unserem Land. Nach dem Abzug
der Besatzungstruppen, kamen rechtskonservative Kräfte und Kollaborateure
an die Regierung, die einen Polizeistaat mit allen Manipulierungs- und Bespitzelungsapparaten
errichteten. Die linksgerichteten, ehemaligen Widerstandskämpfer, wurden
über Nacht verhaftet und zu Tausenden in die Gefängnisse gesteckt
oder in die Verbannung geschickt, wo viele bis 1964 geblieben sind – nicht
nur Männer sondern auch viele Frauen. Nach Scheinprozessen wurden ihnen
hohe Strafen verhängt; viele wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet
– und das für angebliche Verbrechen, die sie nie begangen hatten.
Auch die Familien dieser diskriminierten Patrioten und Demokraten lebten unter
der ständigen Drohung und den Repressalien der Polizei. Ihre Kinder oder
jüngere Geschwister mussten als Abiturienten darum bangen, ob ihnen die
Polizei eine "Bescheinigung" für ihre so genannte soziale Gesinnung
ausstellt, damit sie sich an der Aufnahmeprüfung für das Studium an
den Hochschulen beteiligen dürfen. Und viele Männer und Frauen unserer
Generation haben dieses berüchtigte polizeiliche Zeugnis entweder nach
vielen Vermittlungen und Schikanen erhalten oder es gar nicht bekommen können,
weil für einen engen oder entfernten Verwandten die Polizei eine Gesinnungsakte
angelegt hatte. Es gab innerhalb der Polizei die so genannte Kratikh? aösfaßleia,
was ins Deutsche übersetzt wörtlich Staatssicherheit heißt.
In Griechenland gab es also eine Staatssicherheit nicht von einer kommunistischen
Regierung, sondern von den an die Macht gelangten rechtskonservativen Regierungen.
In Europa bzw. in Deutschland war diese Tatsache den breiten Massen nicht bekannt.
Dies war dennoch die politische Situation im Nachkriegsgriechenland –
sozusagen ein McCarthysmus der schlimmsten Art – schon ab 1945 bis 1964.
Nach dem gescheiterten Versuch der im Jahre 1964 vom Volk erst frei gewählten
Regie¬rung der "Mitte" – die kurz darauf zum Sturz gebracht
wurde –, den Menschen freie Bewegung und Entfaltung in einer Demokratie
zu gewährleisten, verwandelte sich die Staatsautorität durch den Putsch
der Obristen im Jahre 1967, während der totalitären siebenjährigen
Militärdiktatur, in nackte Gewalt. Zum Sturz der Diktatur kam es erst im
Juli 1974. Seitdem ist Normalität eingekehrt. Durch demokratische freie
Wahlen wechseln sich an der Regierung die zwei großen Parteien –
die rechte Nea Demokratia und die Zentrumspartei Pasok.
Soweit nun mit unserem Versuch, die soziokulturellen und sozialgeschichtlichen
Faktoren wie auch die geschichtliche Entwicklung Griechenlands darzustellen.
Jetzt möchte ich kurz auf einige charakteristische Erscheinungsformen der
Identität und der Mentalität der Griechen kurz eingehen: Den Griechen
werden sowohl negative als auch positive Merkmale zugeschrieben. Einige dieser
Charakteristika, die den Ausländern helfen könnten, die Griechen besser
zu verstehen, werde ich im Folgend Gastfreundschaft der Griechen erwähnt.
Ihr Haus ist immer offen und der kärgliche Vorrat steht dem Fremden, der
sich an dem Ort aufhält, wie selbstverständlich zur Verfügung.
Diese Gastfreundschaft hat ihre Wurzeln in der griechischen Tradition und wird
von Generation zu Generation weitergepflegt. Es ist bezeichnend, dass die Griechen
sowohl für den Begriff "fremd" als auch für den Begriff
"Gast" ein und dasselbe Wort "Xénos" (ceßnow)
verwenden. Noch tiefer wurzelt dieses Gefühl der Gastfreundschaft in der
Provinz, wo das Leben noch einigermaßen natür¬lich verläuft
und von der Kom¬merzialisierung der Stadt noch etwas unberührter bleibt.
Die Wärme der Gefühle wie auch eine spontane Hilfsbereitschaft sind
von Aufgeschlossenheit beglei¬tet. Diese Aufgeschlossenheit schlägt
wiederum in eine Neugier um, die aus dem inneren Bedürfnis hervorgeht,
alles ringsum zu erforschen und von allem Kenntnis zu nehmen. Die Griechen "fragen
viel". Das stört oft die nicht daran gewöhnten Deutschen. Auf
der anderen Seite stört die Griechen die Distanziertheit, die Gleichgültigkeit
und Zurückhaltung der Deutschen; dies deuten sie als Hochmut, Verachtung
und Unfreundlichkeit – wenn nicht als Bosheit. Die Griechen erzählen
aber auch viel; sie erzählen gerne von ihren Angelegenheiten, was man als
eine Art Mitteilungsbedürfnis bezeichnen könnte, und sie wollen auch
von den Angelegenheiten der anderen etwas erfahren.
Sehr ausgeprägt ist bei den Griechen das Ehrgefühl, das manchmal eine
Überempfindlichkeit und Gereiztheit zur Folge hat. Ihr Ehrgefühl verpflichtet
sie, gastfreundlich, aufrichtig, hilfsbereit, solidarisch zu sein; das gleiche
Ehrgefühl verpflichtet sie aber auch, wachsam zu sein und jederzeit darauf
zu achten, dass ihre Ehre nicht verletzt wird. Diese Überempfindlichkeit
ist aber bei einer derartigen Haltung und Betrachtungsweise fast unvermeidlich,
so dass sie ihnen zum Schluss den Vorwurf einbringt, streitsüchtig zu sein.
Sie fühlen sich manchmal auch aus einem geringfügigen Anlass angegriffen
und in ihrer Position bedroht und wollen sich wehren.
Ein anderer charakteristischer Wesenszug der Griechen ist ihre leidenschaftliche
Beschäftigung mit der Politik. Die Griechen, auch die nicht organisierten,
sind politisch sehr interessiert und haben ihre persönliche Meinung über
fast jede politische Frage.
Sie lassen sich gern in politische Diskussionen verwickeln und verteidigen dabei
heftig, lautstark und gestenreich ihre persönlichen Positionen, was manchen
Westeuropäern fremd und unverständlich erscheint. Das gilt fast ohne
Abstriche auch für die Frauen. Das bezeugt auch die Tatsache, dass auch
zu Zeiten, wo man die Frau für nicht emanzipiert hielt, die griechischen
Frauen bei dem Widerstand gegen fremde Herrscher oder einheimische Diktatoren
nicht nur dabei waren, sondern auch als führende Persönlichkeiten
gewirkt haben. Man könnte fast ohne Einschränkung behaupten, dass
sich die politische Reife der Griechen auf einem ansehnlichen Niveau befindet.
Das kann man auch als einen der Gründe betrachten, warum jeder politischen
Anomalie fast spontan Widerstand geleistet wurde, und einen von den Gründen
dafür, dass Diktaturen und Selbsternannte Vaterlandsretter in Griechenland
niemals von der Mehrheit akzeptiert wurden und auf keine lange Zukunft bauen
durften; fast alle Könige mussten mindestens einmal ins Exil gehen oder
wurden zur Abdankung gezwungen.
Den Griechen wird oft vorgeworfen, dass sie alles nicht so genau nehmen. Es
ist zwar richtig, dass die Griechen Vorschriften und Anordnungen mit viel Gefühl
und eigenen Deutungsansichten angehen; doch dieser Vorwurf erweist sich vor
allem in kritischen Situ¬ationen als großer Vorteil, wenn es gilt,
Menschlichkeit walten zu lassen. Daher pflegen sie alles im guten Sinne zu relativieren
und finden überall Gelegenheit den kalten Verstand mit warmem Gefühl
zu begleiten. Die Griechen können und wollen in der Regel nicht alles präzis
und lange vorausplanen. Das hat natürlich Nachteile, aber auch Vorteile.
Man ist nicht Sklave der Termine im Privatleben, was aber natürlich oft
Nachteile im Wirken dieser Personen im öffentlichen Leben hat.
Es war vorher die Rede von der Gesprächigkeit der Griechen. Damit verbunden
ist auch die Freizeitgestaltung in der Heimat. Sie hat eine bestimmte Form angenommen,
die für den Alltag der Griechen typisch ist. Die Grie¬chen brauchen
den Kontakt. Sie haben das Bedürfnis, mit Menschen zusammen zu sein. Der
Ort, in dem der Grieche im Allgemeinen seine Freizeit verbringt, ist das bekannte
"Kafenion", das mit dem deutschen "Café", womit man
den Begriff übersetzen kann, in Wirklichkeit wenig gemeinsam hat. Das "Kafenion"
ist ein mehr oder weniger schlicht ausgestatte¬tes Lokal, in dem hauptsächlich,
das besagt auch sein Name, Kaffee oder auch andere Getränke angeboten werden.
Dort, sei es im Dorf oder in der Stadt, treffen sich die Griechen, Bauern, Arbeiter,
Angestellte, Beamte, Rentner, ja sogar Künstler und Intellektuelle in Gruppen,
um sich zu unterhalten oder ihre Zeitung zu lesen oder Tavli (ein Brettspiel)
zu spielen. Ihre Gesprächsthemen betreffen in der Regel ihre Arbeit, ihre
familiären Angelegenheiten, in ziemlich starkem Maße die Landes-
und internationale Politik und natürlich auch den Fußball.
Aus dem Gesagten ist deutlich geworden dass im "Kafenion" wenig getrunken
und viel disku¬tiert wird. Der Besitzer weiß das natürlich und
ist seinen Stammkunden gegenüber im gleichen Maße freundlich ganz
gleich, ob sie einen Kaffee oder einen Ouzo bestellen oder nicht. Hierzulande
fehlte eine solche Möglichkeit, wie sie das "Kafenion" in Griechenland
darstellt. Die heimatliche Gewohnheit und der hiesige Mangel an einer entsprechenden
Institution hatte die griechischen Arbeiter in den ersten Jahren ihres Aufenthaltes
in Deutschland zu den deutschen Lokalen geführt. Aber solche Gäste,
die wenig trinken, dabei aber viel und laut und nicht selten gestikulierend
diskutieren, waren manchmal als unrentabel unerwünscht.
Eine andere Gewohnheit der Griechen ist, sich auf dem Dorf- oder Stadtplatz
zu treffen und sich im Stehen oder indem sie auf und ab spazieren gehen, über
die gleichen, bereits erwähnten Alltagsthemen zu unterhalten. Das Wetter
lädt dazu ein. So etwas war hierzulande ebenfalls nicht üblich, und
es fiel unangenehm auf, wenn sich Aus¬ländergrüppchen auf dem
Marktplatz, auf den Straßen oder auf dem Bahnhof stundenlang aufhielten.
Und nun am Schluss erlaube ich mir einige persönliche Bemer¬kungen
zu den vorhin erwähnten negativen Eigenschaften der Griechen. Als ich mir
jener Eigenschaften wie der Ungenauigkeit, des Nicht-genaunehmens von Anordnungen
und Vorschriften, der eigenen Interpre¬tation der Gesetze, des Nicht-lange-vorausplanen-wollens
oder -könnens bewusst wurde, fand ich sie alle zunächst negativ. Eine
nähere, nüchterne Betrachtung aber brachte mich zu der Ansicht, dass
sie einerseits gar nicht so schlecht sind, sogar reizvoll, und andererseits
lebenswichtig für das Durchkommen und Überleben in schwierigen Lebenssituationen
sozialer Art sowie bei geschichtlichen Schicksalsschlägen, wovon die persönliche
und die heimatliche Geschichte voll war.
Das Ziel der bisherigen Aus¬führungen ist es gewesen, neben der Skizzierung
der land¬schaft¬lichen und der soziokulturellen Gegebenheiten, der sozialge¬schichtlichen
und politischen Entwicklung Griechenlands auch den griechischen Menschen als
Produkt sozusagen der erwähnten Faktoren zu präsentieren. Ich hoffe,
dass es mir gelungen ist, das Bild des Landes und seiner Menschen einigermaßen
anschaulich zu machen.