„Der Mensch, ein himmlisches Gewächs” (Tim. 90a):
Naturbetrachtung als Seelentherapie bei Platon und im Hellenismus


Michael Erler


I.
Ohne Zweifel sind Denken und kulturelle Identität Europas von der griechi-schen Antike wesentlich mitgeprägt. Wer Geschichtlichkeit als Gesichtspunkt bei dem Versuch akzeptiert, sich in der kulturellen Gegenwart Europas und in einer immer schwerer überschaubaren und deshalb als beängstigend empfundenen Welt zu orientieren, der kann und muss sich auch der antiken Wurzeln seines Umfeldes vergewissern. Denn eine kritische Rückbesinnung trägt zur Identitätsfindung, Selbstvergewisserung und Orientierung bei, weil man erkennt, was wirklich neu, was überkommen, was hiervon möglicherweise obsolet und was bewahrenswert ist.
Dies gilt auch für die Frage nach dem Verhältnis des Menschen zur Natur, in der heute vielfach ein Gegenüber gesehen wird, dem man sich nicht zugehörig fühlt, das er aber gerade deshalb als kontrollierbar und beherrschbar gilt. Die-se Einschätzung trägt viel zum modernen Selbstverständnis und zum Vertrauen bei, letztlich alles zu vermögen wenn man nur über die richtigen Informationen ver-fügt.
Ohne Zweifel hat die moderne Distanz des Menschen zur Natur zu Erkenntnis-fortschritt geführt. Wenn die Natur dem Menschen allerdings die Grenzen ihrer Beherrschbarkeit und seiner Möglichkeiten aufzeigt, herrscht Fassungslosigkeit und wird die Sinnfrage gestellt. Naturkatastrophen, wachsende Ansprüche einer globaler und dadurch komplexer werdenden Welt, der Zwang, ständig Entscheidungen treffen zu müssen, ohne sich der hierfür notwendigen Kriterien sicher zu sein, die Herausforderung, sich vermehrt in fremdartigen Situationen zurechtzufinden, sorgen für Irritation, lassen an der Beherrschbarkeit der Phänomene zweifeln und führen letztlich zu einem Gefühl der Überforderung. Statt die Umstände, mit de-nen wir konfrontiert werden, zu beherrschen, fühlen wir uns ihnen ausgeliefert.
In solchen Situationen ist es hilfreich, den Blick zurückzuwenden und sich daran zu erinnern, dass derartige Situationen nicht notwendig neu sind. Auch in der Antike, z.B. im 5. und 4. Jh. v. Chr. nach einer Phase welche von großem Optimismus und Aufbruchstimmung in Athen geprägt war, scheint sich ein Gefühl der Unsicherheit verbreitet zu haben Ursache waren eine mit der heutigen Globa-lisierung vergleichbare Erweiterung des Horizontes und Säkularisierungsbestre-bungen, die auch das Verhältnis von Mensch und Natur betrafen. Diese führten zu Anforderungen, von denen sich die einen überfordert fühlten, denen andere aber mit Angeboten begegneten, wie man in der sich verändernden Welt zurecht kommen kann.
Eine besondere Haltung des Menschen wurde gesucht, um ein gutes und glückli-ches Leben ohne Verwirrung in innerer Ausgeglichenheit - heute würden wir sagen, in Geborgenheit - zu führen. Techniken wurden empfohlen, wie dieses Ziel zu er-reichen sei. Immer wieder wird in diesem Zusammenhang auf das Konzept einer ‘Sorge für die Seele’ als Wesen des Menschen hingewiesen, ein Konzept, das Pla-ton in seinen Dialogen Sokrates propagieren, analysieren und vorführen lässt.
In der Tat ist hier ein Konzept angesprochen, das von Platon ausgehend über die Spätantike und das Mittelalter die Renaissance erreichte und dort zu einem wichtigen Aspekt bei der Entwicklung der modernen Vorstellung von der Würde des Menschen wurde, auf die wir uns heute in Artikel 1 unseres Grundgesetzes berufen können.
Die Frage ‘Wie soll ich leben’ und der Hinweis, ‘arbeite an dir und hilf an-deren dabei’, sind in der Tat Leitmotive der Dialoge Platons. Denn Glück im Sin-ne eines erfüllten Lebens ist nach Platons Ansicht wie der seiner antiken Kolle-gen machbar. Bedingung ist, dass man an sich arbeitet, und sich von der Welt, die einen umgibt, nicht irritieren lässt. Eine Voraussetzung ist, dass die Natur nicht als etwas Fremdes angesehen wird, das man beherrschen kann, sondern dass man sich als Teil dieser Natur empfindet, und mit ihr als etwas Vertrautem rich-tig umgeht.
„Gott hat den Menschen in die Welt gebracht, um ein Betrachter seiner selbst und seiner Werke zu sein, und nicht nur ein Betrachter, sondern auch ein Ausle-ger’’: Diese Forderung des Stoikers Epiktet (diss. I 6) nach einem betrachtend analysierenden Umgang mit der Natur zum Zweck der Selbstformung wird zum ersten Mal in einem Dialog Platons ausgesprochen, im Dialog ‘Timaios’.
Dieser Dialog, der den Untertitel „Peri Physeos“ (de natura) trägt (und von der Natur handelt), ist ein Grundbuch europäischer Physik, gleichzeitig aber auch ein wichtiger Beitrag zur Frage nach den Bedingungen für ein richtiges Le-ben. Denn er begründet, warum der Mensch Teil der Natur ist und zeigt, wie Na-turbetrachtung zur Selbstformung des Menschen, zur Identitätsfindung und Selbst-vergewisserung beitragen kann. Er stellt den Leser vor eine Entscheidung über den Umgang mit sich und seiner Umgebung, die zu einer Lebensentscheidung wird. Platon bietet zwei Alternativen, von denen er eine favorisiert, die jedoch beide in der Folge eine wichtige Rolle in der europäischen Geistesgeschichte gespielt haben.
Im Folgenden soll auf dieses Alternativangebot im Umgang mit der Natur im ‘Timaios’ eingegangen werden und dann am Beispiel des bedeutenden epikureischen Lehrgedichtes ‘de rerum natura’ des römischen Dichters Lukrez aus dem 1. Jh. v. Chr. gezeigt werden, dass und wie Platons Vorgaben in einen neuen philosophi-schen Kontext aufgegriffen und verarbeitet worden ist. Dabei wird vielleicht auch deutlich, dass und warum Platons Vorstellung auch für unsere Zeit von Inte-resse ist.


II.
Naturbetrachtung als Selbstformung
Zunächst also zum ‘Timaios’. Es mag verwundern, diesen Dialog zurate zu zie-hen, wenn es um die Frage geht, wie der Mensch an sich arbeiten, sich selbst formen und einen Idealzustand erreichen soll, um richtig zu leben. Denn der Dia-log ‘Timaios’ wird zumeist als naturphilosophisches und nicht als ein ethisches Werk gelesen. Freilich hat man bemerkt, dass die Ausführungen in diesem Dialog auch eine ethische Intention verfolgen. Platons philosophische Grundpositionen und die Gestaltung des Dialoges lassen in der Tat Zweifel aufkommen, ob die na-turphilosophischen Ausführungen im ‘Timaios’ alleiniger Selbstzweck sind. Kann Platon als Erfinder der Ideenlehre, der eher eine Überwindung der diesseitigen Welt zu empfehlen scheint, als sich in ihr gut einzurichten, Naturbetrachtung, die sich auf den Bereich des Werdens richtet, ernst nehmen? Warum sollen wir uns darüber belehren lassen - wie dies im ‘Timaios’ geschieht (73a) -, dass der menschliche Darm von besonderer Länge und besonders gewunden ist, damit der Mensch nicht beständig Nahrung aufnehmen muss, sondern mehr Zeit für Philosophie und die Musenkunst hat. Timaios stellt fest, dass die Betrachtung der Natur nur zur Erholung dient, es eigentlich um die Schau des Ewigseienden geht:
“.....wenn man zu seiner Erholung die Untersuchungen über die ewigseienden Dinge beiseitelegt und wahrscheinliche Betrachtungen über das Werden anstellt und so ein Vergnügen ohne Reue gewinnt, maßvolle und vernünftige Kurzweil in seinem Leben treiben (wird)” (Tim. 59c–d, Üb. Schleiermacher).
Naturphilosophie als Erholung und Spiel: Kein Wunder, dass diese teleologi-sche Naturbetrachtung im ‘Timaios’ moderner, von Naturwissenschaften geprägter Weltsicht befremdlich erscheint und man fragt, was Platon mit den Ausführungen im ‘Timaios’ bezweckt.
Als irritierend wird auch die Komposition des Dialoges empfunden. Denn der Beginn bietet keineswegs eine Naturbetrachtung, sondern spricht politische, ge-sellschaftliche und ethische Fragen an. Nach einer Zusammenfassung der am Vortag diskutierten Vorstellung von Idealstaat (17c) einigen sich die Gesprächspartner darauf, eine durch Quellen beglaubigte ‘wirkliche Geschichte’ (20d) zu hören (19cff.), die mit Elementen einer zuvor resümierten idealen Staatskonzeption konvergiert. Es handelt um jene Geschichte von Atlantis, die seither die Phanta-sie zahlreicher Entdecker inspiriert hat (21e–25e), die aber eigentlich der Il-lustration philosophisch ethischen Verhaltens von Menschen dienen soll (Tim. 29). Zuvor soll jedoch die Voraussetzungen geschildert werden, der Ursprung der Menschen und die Entstehung der Welt.
Kosmogonie und Anthropogonie sind also keineswegs Selbstzweck, sondern Teil eines Programms, das in der Demonstration politisch ethischen Verhaltens gip-felt. Die Struktur des Dialoges erweist vielmehr die Ethik als Resonanzboden der naturphilosophischen Ausführungen aus. Eben dies gilt auch für den naturphiloso-phischen Monolog des ‘Timaios’. In ihm legt er dar, wie die Welt als Ganzes ent-standen ist, wie dem Weltkörper eine Weltseele eingefügt wird, wie die Zeit als bewegtes Abbild der Ewigkeit entsteht, wie es zur Entstehung von Sternen, Plane-tenumläufen und Lebewesen kommt, bis hin zur Entstehung des Menschen mit seinem Körper, seinen Organen und seiner Seele. Der Mensch verfügt analog zur Welt über eine Seele, die wie die Weltseele strukturiert ist, und über einen Körper, der aus den vier Elementen besteht, aus denen auch der Kosmos aufgebaut ist. Der Mensch ist also ein Mikrokosmos. Wie im Kosmos die Vernunft über alles andere, so muss im Menschen die Seele über den Körper und in der Seele ihr unsterblicher Vernunftteil über den zornartigen und den begehrlichen Teil herrschen (42d. 71d). Gibt es Ordnung oder Ebenmaß, sind Leib und Seele gesund (87c). Andern-falls kommt es zu Krankheit im Körper und an der Seele. Denn Unverstand gilt als Krankheit (86b). Timaios endet seinen Vortrag mit Hinweisen, wie diese körperli-chen und seelischen Krankheiten zu meiden oder zu beheben sind. Wie sich zeigt, kommt der Betrachtung und Analyse der Wirklichkeit eine wichtige Rolle quasi als Heilmittel für die Seele des Menschen zu. Wenn nämlich die Seele beim Kontakt mit der sinnlichen Welt in Unordnung gerät (Tim. 90d.; conv. 192e), muss sie ihre ursprüngliche Natur restituieren. Zu diesem Zweck muss sie nach Erkenntnis streben, jene göttliche Ordnung nachahmen und sich ihr angleichen, die als geis-tige Struktur hinter den Phänomenen steckt. Naturbetrachtung und Auseinanderset-zung mit der Wirklichkeit werden also zum Prüfstein des Menschen und können hel-fen, einen Zustand wieder zu finden, der ihn seine eigentliche Bestimmung erken-nen lässt

Wir lesen:
“Wer sich um die Lernlust und die wahren Einsichten eifrig bemüht und die entsprechenden Vermögen am meisten trainiert hat, der wird zum einen mit Notwen-digkeit Unsterbliches und Göttliches im Sinn haben, sofern er die Wahrheit be-rührt, und zum anderen wird er - soweit es der menschlichen Natur gegeben ist, an der Unsterblichkeit teilzuhaben - daran keinen Teil auslassen und deshalb besonders glücklich sein, weil er immer das Göttliche pflegt und dieses als den in ihm mitwohnenden, wohlgeordneten Daimon erhält’’ (90b–c).
Wer seine eigentliche Natur wiedererlangen will, der muss sich auf den ratio-nal-unsterblichen Teil seiner Seele konzentrieren und mit der Wirklichkeit aus-einandersetzen. Er darf nicht bei der Welt der Phänomene stehen bleiben, sondern muss die sinnliche Natur transzendieren. Notwendig sind Erkenntnis, Nachahmung und Angleichung an die unkörperliche Ordnungsstruktur der Natur (74b) mit Hilfe des rationalen Seelenteiles im Menschen (Tim. 68e. 88e–90a. 90d). Nur so kann die Seele ihren ursprünglichen Zustand wiedergewinnen und kann dabei, soweit es Menschen möglich ist, sogar göttlich werden. Die menschliche Seele erlangt dann eine Disposition, die zum ‘guten’ Zustand der Welt beitragen kann, den der Demi-urg wünscht (90c–d). “In diesem 'Anähnlichen' - dieser Homoiosis an Gott (Tim. 90c) - erreicht der Mensch die Vollendung des für ihn von den Göttern ausgesetz-ten besten Lebens für die gegenwärtige und die weitere Zeit’’.
Möglich ist dieser Selbstheilungsprozess, weil der Mensch ein “himmlisches Gewächs ist, dessen Wurzeln im Himmel festgemacht sind’’. Die Pflege der Denk-seele, des göttlichen Elementes in uns, richtet den Menschen auf zur Verwandt-schaft im Himmel (Tim. 90aff.) - man denkt an das Argument vom aufrechten Gang als Beleg für die excellentia hominis wie es bei Ovid und nach ihm z.B. in der Renaissance immer wieder als Beweis für die Würde des Menschen angeführt wird (vgl. Ov. Met. I 80).
Die Betrachtung der Welt und ihrer Strukturen ist also kein Selbstzweck. Sie geschieht, um die menschliche Seele in eine bestimmte Disposition zu versetzen, die Glück bringt und zum besten Leben führt. Naturphilosophie dient der Therapie der Seele, der Restitution des alten, geordneten Zustandes (Tim. 90b–d). Sie führt zu Glück und einem guten Leben, ist also Teil der Ethik. Voraussetzung für die therapeutische Wirkung von Naturbetrachtung ist die strukturelle Überein-stimmung zwischen der Weltseele und der Seele des Menschen. Der Mensch ist Teil der Wirklichkeit und steht ihr nicht fremd gegenüber. Freilich geht es dabei nicht um die Phänomene selbst, sondern um die geistigen Strukturen hinter dem Naturgeschehen. Denn hier besteht jene Entsprechung zwischen dem unsterblichen Seelenteil, dem die platonisch-sokratische Seelsorge gilt, und der geistigen Struktur oder Natur des Kosmos. Die Pflege des ‘unsterblichen Seelenteils’ ver-hilft der Seele dazu, sich in den Himmel zu erheben (aírein) (90a–c).
Gewiss, an gleicher Stelle im ‘Timaios’ erwägt Platon auch die Möglichkeit, dass man sich bei der Identitätssuche nicht vorrangig auf die unsterblichen, sondern auf die sterblichen Seelenteile konzentrieren (90 B), also die sterbli-che Seele zu seinem Selbst zu erklären könnte.
„Wer mit seinen Begierden oder ehrgeizigen Bestrebungen beschäftigt ist und sich um diese Dinge sehr bemüht, in dem müssen notwendig alle Meinungen in sterblicher Form entstehen und er wird - soweit er es kann -, seinen sterblichen Zustand perfektionieren’’ (Üb. Schleiermacher).
Das entspricht nicht der Intention Platons (90b–c). Doch räumt er ein, dass auch in diesem Fall eine therapeutische Naturbetrachtung vorliegt und eine Per-fektionierung zumindest des sterblichen Zustandes möglich erscheint.
Es gilt festzuhalten: Timaios' Ausführungen über die Entstehung der Welt und des Menschen und die Ordnung der Welt, sind somit Teil eines ethisch politischen Programms und münden in einer Lebenswahl, unterschieden nach Zielvorstellung und Methode. Einmal geht es um die Pflege des unsterblichen Selbst und darum, so ‘unsterblich wie möglich’ und wirklich glücklich zu werden; im anderen Fall geht es um die Pflege des sterblichen Selbst und darum, ‘so sterblich wie möglich’ zu werden.
Angeboten wird ein Alternativmodell für die Selbstvergewisserung des Men-schen. Grundlage ist in beiden Fällen die Natur, als deren Teil sich der Mensch empfindet und die als Material für die Heilung der Seele dienen soll. Der Unter-schied resultiert aus dem, was unter Natur verstanden wird. Sieht man in ihr eine unsterbliche Struktur hinter der empirischen Natur als Objekt der Betrach-tung, sind Unsterblichkeit und Eudaimonie der Lohn, soweit dies menschlichem Vermögen gegeben ist. Gilt Natur als Bereich der Phänomene und konzentriert man sich auf sein sterbliches Selbst, seine Begierden und seine Emotionen, ist zu-mindest die Perfektionierung des sterblichen Selbst und Orientierung im Dies-seits erreichbar. In beiden Fällen aber werden Naturphilosophie und Naturbe-trachtung zur Übung der Seele, die dazu verhilft, die das Leben zu meistern und die Welt des Werdens zu transzendieren (resp. 443c–444a).
Naturphilosophie als Ethik: Dies wird den modernen Leser verwundern, belehrt uns doch die moderne Philosophie (David Hume; Edward Moore), dass aus Naturgege-benheiten keine Regeln für die Ethik, dass aus deskriptiven Sätzen keine Sol-lenssätze abzuleiten sind. Weltbetrachtung als Mittel der Selbstgestaltung muss befremden, wenn die Natur zur Äußerlichkeit und zum fremden Objekt geworden ist, das man vielleicht beherrschen kann, als dessen Teil man sich aber nicht empfin-det.
Doch trifft dieser moderne Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses Platons nicht. Denn der Vorwurf setzt eine Entfremdung zwischen Natur und Mensch voraus, die Platon gerade bestreitet oder überwinden will. Denn schon im 5. Jh. v. Chr. war das Verhältnis Natur und Mensch problematisch geworden, begannen sich Mensch und ein mechanistisch verstandener Naturablauf wie fremd gegenüber zu stehen und wurde dieses Verhältnis zum vorzüglichen Gegenstand des zeitgenössischen, philo-sophischen Diskurses. Platon nahm an der Diskussion teil, vor allem im ‘Phaidon’ und im ‘Timaios’.
Der ‘autobiographische’ Exkurs im ‘Phaidon’ (96a–101e) nämlich erläutert, dass und wie Sokrates aus Enttäuschung über die empirisch materielle Naturauf-fassung des Anaxagoras, der die Frage nach dem Wozu, dem Guten, in den Naturab-läufen nicht beantworten kann, zur Ideenhypothese gelangt ist. Um die Sinnhaf-tigkeit von Prozessen und Verhaltensweisen zu erfassen, muss man demnach die Natur als Bereich der Phänomene transzendieren und sich an der Struktur hinter den Phänomenen orientieren: Was hier als These formuliert wird, führt der Timai-os aus. Wieder wird der enge Zusammenhang von Naturphilosophie und Ethik deut-lich. Die Verbindung von Physik und Ethik ist nach Platon gegeben, wenn man ein materielles Verständnis von Natur und Seele überwindet und eine geistige - ma-thematische - Struktur zugrunde legt. Erst dann kann der Mensch sein wahres Selbst - die Seele - pflegen, indem er die Natur - und das meint - die Struktur hinter den natürlichen Phänomenen betrachtet.
Es sei daran erinnert, dass Platons Bemühungen, jene Kluft zwischen Mensch und Natur zu überwinden, auch im neueren physikalischen Diskurs reflektiert, ja geradezu als notwendig angesehen wird. In der Antike hat das von Platon favori-sierte Paradigma menschlicher Selbstfindung, sowohl im pagan philosophischen Bereich als Telosformel platonischer Ethik, wie auch im christlichen Bereich, große Wirkung entfaltet.
III.
Physik als Pflege des sterblichen Selbst
Das gilt aber auch - weniger beachtet - für das von Platon abgelehnte Alter-nativmodell: ‘Physik als Pflege des sterblichen Selbst’ mit dem Ziel, dieses zu perfektionieren. Diese Alternative sprach naturgemäß jene Schulen an, die sich am materiellen Bereich orientierten, und in der sterblichen Seele das ‘Selbst’ des Menschen sehen und offenbar bezogen sie sich hierbei auf den Timaios.
Wir lesen z.B. in Ciceros Schrift Lucullus (Luc.128) unter eindeutigem Bezug auf Platons Timaios.
„Dennoch bin ich der Meinung, dass man diese Forschungen der Naturphilosophen nicht abschaffen darf. Denn die Betrachtung der Natur stellt gleichsam so etwas wie die naturgegebene Nahrung des Geistes und der Begabung dar’’ - das ‘quasi papulum’. Cicero bezieht sich auf Platons ‘Wissensnahrung’ Timaios 90c -; “wir richten uns auf und scheinen in die Höhe zu wachsen auf die menschlichen Angele-genheiten blicken wir hinab...nur schon den Dingen nachzuspüren bereitet Ge-nuss’’ (Luc. 41, 127).
Auch hier wird also Naturphilosophie nicht um ihrer selbst willen, sondern wegen ihrer ethischen Komponente akzeptiert. Mehr noch: Naturphilosophie wird nicht nur als Ethik vorgestellt, sondern Ethik als Rechtfertigung von Naturphi-losophie angegeben. Denn sie fördert eine Disposition, die alles aus Distanz zu betrachten erlaubt.
Diese Bezüge sind durchaus bekannt. Überraschend aber ist, einen derartigen Bezug auch bei den Epikureern wiederzufinden, die mit Platon wenig im Sinn ha-ben. Freilich, auch ihnen geht es darum, einen möglichen Gegensatz von Natur und Mensch aufzuheben (Lukr. V 232–34) und dadurch dem Menschen zu jener Dispo-sition zu verhelfen, die ihm ethisch wertvolles Handeln ermöglicht. Offenbar greifen auch sie dabei auf Platons Alternativmodell zurück, wobei gerade im Kon-trast interessante Parallelen kenntlich werden.
Dies wird deutlich im Lehrgedicht ‘de rerum natura’ des römischen Epikureers Lukrez, das er im 1. Jh. v. Chr. verfasst hat. Zu Beginn des V. Buches erklärt Lukrez nämlich, dass und wie der Schulgründer Epikur durch Arbeit an sich und Auseinandersetzung mit der Welt, zu jener Stellung in der Welt gefunden hat, die allen Menschen zusteht. Dabei wird deutlich, dass er dabei Alternativangebote des Timaios rekurriert.
Wie im ‘Timaios’ sind im V. Buch Kosmologie, Anthropologie und Gesellschafts-lehre zentrales Thema. Auch hier geht es letztlich um Ethik: Mittels Naturbe-trachtung und Analyse soll der Mensch sein Selbst kultivieren. Lukrez stellt Epikur, den Schulgründer, als neuen Gesetzgeber vor, der Naturgesetze ‘entdeckt’ und der menschlicher Gesellschaft Regeln für das Zusammenleben gegeben hat. Es ist längst geschehen, dass Lukrez sich vor allem mit Platon, nicht zuletzt mit seinem ‘Timaios’ kritisch auseinandersetzt. Weniger beachtet ist, dass ein solch kritischer Bezug auch bei der ethischen Aussage vorliegt.
Sehen wir uns das Proömium also etwas näher an (5, 1–22).
„Wer vermöchte mit starker Brust ein Lied zu dichten, das der Hoheit der Din-ge und ihrer Entdeckung würdig wäre? Oder wer ist so geschickt in seinen Worten, dass er das Lob des Mannes seinen Verdiensten entsprechend dichten könnte, der solchen Lohn in seiner Brust gesucht und gefunden und uns hinterlassen hat? Das wird, glaube ich, keiner können, der aus sterblicher Liebe geboren ist. Denn wenn wir sprechen müssen, wie es die erkannte Hoheit der Dinge fordert (pro re-rum maiestate), war es ein Gott (dicendum est, deus ille fuit, deus), ruhmvoller Memmius, ein Gott, der als erster die Lehre des Lebens gefunden hat, die man jetzt Weisheit nennt, und der durch seine Kunst aus so gewaltigen Stürmen und aus so tiefer Finsternis unser Leben in so große Ruhe und in so helles Licht gesetzt hat”.
Und etwas weiter heißt es:
„Ein gutes Leben aber war nicht möglich ohne reine Brust (sine puro pectore); mit umso größerem Recht also scheint der uns ein Gott zu sein, dem es zu danken ist, dass jetzt über große Völker hin verbreitet süßer Trost des Lebens die Her-zen besänftigt”.
Schon die Apostrophe ‘ein Gott ist jener gewesen, ein Gott’: ‘deus fuit ille, deus’ als Beschreibung seiner Disposition ist von Bedeutung. Denn sie erhält einen geradezu programmatischen Charakter. Mit diesem Ausdruck aus der Kultspra-che spricht Lukrez seinem Meister Göttlichkeit zu. Freilich, das Perfekt ‘fuit’ erinnert daran, dass der Epikur sein Selbst zwar in höchsten Maße perfektioniert hat, jedoch dabei ein sterblicher Mensch geblieben und gestorben ist, als ein deus mortalis, epikureischer Lehre entsprechend, wonach die Seele, das Selbst Epikurs sozusagen, sterblich ist.
Den status eines deus mortalis hat Epikur also erreicht. Epikur wird vorge-stellt als exemplum für eine Pflege jenes sterblichen Selbst, von dem im ‘Timai-os’ die Rede ist. Drei Verdiensten - so erfahren wir bei Lukrez - verdankt Epi-kur seine Apotheose:
Zunächst hat Epikur die Würde der Dinge erkannt (cognita maiestas rerum). Diese Erkenntnis zwingt geradezu dazu, Epikur göttlichen Status zuzuerkennen (dicendum). Nicht also der Rang des Gegenstandes, mit dem er umgeht, verleiht Epikur seine Würde. Ausschlaggebend ist, dass er Erkenntnis von diesem Gegens-tand gewonnen hat: d.h. Epikur wird eine analysierende Betrachtung der Welt als Verdienst angerechnet. In der Tat geht es Epikur und den Epikureern um die rati-onal analysierende Betrachtung einer Natur, die nicht von Göttern geleitet, son-dern von unüberwindbaren Gesetzmäßigkeiten bestimmt ist (vgl. Lucr. 4, 24–25). Eine solche Betrachtung befreit Epikur zufolge nicht nur von geistigen Verirrun-gen, wie Todesfurcht oder Aberglaube (vgl. Cic. fin. 1, 19, 63 omnium autem re-rum natura cognita levamur superstitione), sondern bereitet auch Lust (GV 27).
Auch für Epikur ist die Welt also Material für die Selbstpflege, ist Offen-heit Voraussetzung für Selbstvergewisserung. Anders als bei Platon setzt Epikur jedoch voraus, dass es keine göttliche Fürsorge gibt. Doch ist dies für Epikur kein Anlass zur Resignation, sondern Mittel zur Befreiung und Ursache von Glück. Aufgeklärter Umgang mit einer säkularisierten Natur zeigt nämlich, dass die Na-tur selbst alles bereithält, dessen der Mensch bedarf. Es geht ihm nicht darum, Natur zu beherrschen, sondern sie auszulegen und auf sie zu hören. Nur wer die Dinge sieht, wie sie sind, kann sie richtig einschätzen, angemessen mit ihnen umgehen und sich auf diese Weise eine Disposition erarbeiten, die ihm Glück ga-rantiert.
Als weitere Verdienste Epikurs werden genannt (5, 45ff.), dass er seine Be-gierden im Sinne einer Mäßigung, nicht einer Beseitigung gezähmt habe. Aus-schlaggebendes Kriterium für den richtigen Umgang mit ihnen ist jenes Maß (1, 74–77; 3, 944ff.), das durch rationale Betrachtung und Analyse der Natur vermit-telt wird, (6, 64–66) und auch mit den eigenen Affekten umzugehen hilft.
Schließlich fordert Epikur für ein erfolgreiches Streben nach Vergöttlichung (6, 85ff.) eine richtige Auffassung von den Göttern. Wie bei den uns umgebenden Phänomenen soll man sich auch bei den Göttern von falschen Vorstellungen frei-halten (Lucr. 5, 84ff.). Ansonsten fällt man in jenen Aberglauben zurück, von dem uns Epikur befreit hat. Die Frage der Gesinnung bei religiösen Handlungen wird zu einer der drei Grundbedingungen für die erfolgreiche Pflege des ‘sterb-lichen Selbst’.
Fassen wir also zusammen: Epikur hat wie Platon erkannt, dass die Natur nicht nur betrachtet, sondern auch interpretiert werden muss; er hat gefordert, dass Begierden im Zaume zu halten sind; er hat erkannt, dass alles von der richtigen inneren Einstellung abhängt. Weil er diese drei Notwendigkeiten nicht nur er-kannt, sondern offenbar auch befolgte, hat er den Status eines deus mortalis, eine perfekte Disposition seines sterblichen Selbst, einen Zustand heiterer Ge-lassenheit (Hdt. 37; Lukr. 4, 1) erreicht.
Was wir Lukrez’ Gedicht ‘de rerum natura’ entnehmen können, wirkt wie eine bewusst gestaltete Kontrastimitation dessen, was in ‘Timaios’ dem Leser angebo-ten wird. Damit haben wir die Konkretisierung jenes platonischen Alternativmo-dell antiker Selbstpflege vor uns, das von ähnlich großer Bedeutung in der anti-ken Philosophie werden sollte wie das von Platon favorisierte Modell. Und wir sehen, dass beide letztlich zuerst im Timaios formuliert sind. Beiden Modellen geht es darum, Orientierung und Selbstvergewisserung im Umgang mit der Wirklich-keit, mit einer Natur zu gewinnen, die auch hier nicht als etwas dem Menschen Fremdes empfunden wird.
IV.
Wir haben also zwei Modelle pagan antiken Strebens nach Perfektionierung des eigenen Selbst kennen gelernt, das mal als sterblich, mal als unsterblich ver-standen wird. Als Mittel hierzu diente eine Auseinandersetzung mit einer Wirk-lichkeit, die man nicht beherrschen und deren negative Aspekte man nicht besei-tigen kann und will, sondern die man entweder zu transzendieren oder zu neutra-lisieren strebt. Beide Modelle gehen davon aus, dass es dem Menschen nicht auf-gegeben ist, sich selbst zum Objekt seiner selbst zu machen, oder sich selbst so zu manipulieren (Genforschung), um eventuelle Nachteile zu meiden, sondern dar-um, die Wirklichkeit anzunehmen und mit ihr auf angemessene Weise umzugehen. Beide glauben, Maß und Standard für ihr Verhalten in eben jener Wirklichkeit zu finden, als deren Teil sie sich empfinden und mit der sie umzugehen versuchen. Beiden geht es um das Erreichen individuell richtiger Lebensweise und Glückes. Es wäre freilich ein Missverständnis, in einer derartigen Selbstgestaltung zum Zweck eigenen Glückes eine rein ich-bezogene Selbststilisierung im Sinn des mo-dernen Dandytums zu sehen: Im Gegenteil, die Selbstformung erfolgt in der Über-zeugung, dass sie ein Beitrag zur positiven Weltgestaltung ist: Sowohl für Sok-rates wie für Epikur gilt: Hilfe zur Selbsthilfe anderer fördert das Glück al-ler. Für den epikureischen Weisen wie für Platonanhänger gilt, dass wer sich selbst erhalten kann, auch zum Retter der anderen wird. Wir hörten, dass auch bei Platon derjenige, der sein unsterbliches Selbst pflegt und gut wird, zum Guten des Ganzen beiträgt Das gilt also für den Platoniker, der sich an Struktu-ren hinter den Phänomenen orientiert, ebenso wie für den Epikureer, der sich auf die Welt der Phänomene einlässt, um seine Würde, seinen Ort in der Welt zu er-langen.
Gemeinsam sind beiden Schulen Techniken der Selbstpflege und der Identitäts-bildung, gemeinsam ist die Überzeugung, dass der Mensch ein ausgezeichneter Teil dieser Wirklichkeit ist, die ihm das Material für die Selbstbildung bietet: Da-bei spielt es letztlich keine Rolle, ob die Natur bei Epikur autonom vorgegeben, oder wie bei Platon und in der Stoa um des Menschen willen hergestellt ist.
Eben diese Grundlage jedoch, dass der Mensch selbst Teil jener Natur ist, mit der er sich zu seinem eigenen Vorteil auseinandersetzen soll, ist einem modernem Denken nicht mehr vertraut, das den antiken Physisbegriff aufgegeben hat, wohl infolge des seit Descartes propagierten Dualismus von Ich und Welt, von Subjekt und Objekt den Menschen von der Natur getrennt und die solchermaßen ‘entmensch-lichte und entgöttlichte Natur’ auf ein bloßes Objekt menschlicher Erkenntnis reduziert hat. Goethe hat recht (Maximen 1364–1366) ‘die Natur, die uns zu schaffen macht, (ist) gar keine Natur mehr, sondern ein ganz anderes Wesen als dasjenige, womit sich die Griechen beschäftigen’. Das menschliche erkennende Subjekt tritt der Natur als einem fremden und deshalb beherrschbaren Objekt ge-genüber.
Vielleicht ist hier ein Rekurs auf das antike Menschenbild lohnend im Sinne eines kritisch distanzierten, aber offenen Umgang mit Tradition, der bei der Diskussion bestimmter Aspekte des antiken Menschenbildes angemessen scheint.
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