Gunther Wenz
Am 4. Dezember 1521 verlässt Martin Luther die Wartburg, um für einige
Tage heimlich nach Wittenberg zu kommen. Cranach, so geht die Kunde , hinterbringt
er die Nachricht, ein durchreisender Reitersmann wolle sich rasch konterfeien
lassen. Der Maler skizziert eilig den 38-Jährigen, der ihm seit geraumer
Zeit kein Unbekannter ist, und fertigt nach der Skizze einen Holz¬schnitt
an: der Reformator als Junker Jörg. „Der bärtige Kopf des ritterlichen
Luther wurde von Cranach so massiv angelegt und kräftig durchgezeichnet,
das Wams so schmissig angegeben, dass das Bild Respekt einflössen sollte.“
Respekteinflößende Durchsetzungskraft sollte Jörg-Martinus bald
außerordentlich nötig haben. Etwa einen Monat nach Luthers heimlichem
Wittenberg-Aufenthalt, am 10. und 11. Januar 1522, werden in der Kirche des
dortigen Augustinerklosters und bald auch in anderen Gotteshäusern Gemälde
verbrannt und Altäre verwüstet. Bilderstürmer unter der Führung
des radikalen Augustinermönchs Gabriel Zwilling und des Professors Andreas
Bodenstein aus Karlstadt, der unter dem Namen seiner am Main gelegenen Geburtsstadt
in die Reformationsgeschichte eingehen sollte, treiben ihr zerstörerisches
Unwesen. Zur Rechtfertigung des Vernichtungswerkes dient Karlstadt, dem einstigen
Mitstreiter Luthers bei der Leipziger Disputation , das alttestamentliche Gebot,
sich kein Bild von der Gottheit zu machen und keine anderen Götter zu haben
neben dem einen und wahren Gott. Alle Ölgötzen, so Karlstadt, seien
deshalb nach Maßgabe der Schrift aus den Gotteshäusern zu entfernen.
Dieses harsche Urteil ruft Luther auf den Plan. So sehr er seinerseits gegen
abgöttische Bilderverehrung und die Meinung polemisiert, durch Stiften
von Altären und Kirchengemälden könne man ein Gott wohlgefälliges
Werk tun, so wenig lässt er sich irgendeine Form gewaltsamer, unter dem
Vorwand der Reformation betriebener Bilderstürmerei gefallen. Anfang März
kehrt er gegen den Willen seines Kurfürsten endgültig von der Wartburg
nach Wittenberg zurück, um in seinen berühmten Invokavit-Predigten,
die er am 9. März 1522 beginnt, der Zerstörung ein Ende zu bereiten
und die Unruhestifter in Schranken zu weisen. Zwilling und Karlstadt müssen
aus Wittenberg weichen; auch wenn die Fehde literarisch noch eine Weile fortgeführt
wird – das Stürmen von Bildern bleibt in der Wittenberger Reformation
Episode, ja mehr noch: es war fernerhin grundsätzlich verpönt. Zwar
sind Bilder in keiner Weise heilsnotwendig oder für den Kultus unentbehrlich,
dennoch können sie dem Glauben in mancherlei Hinsicht förderlich und
nutzbar sein. Neben der gottgefälligen Freude am Schönen ist dabei
für Luther besonders der volkspädagogische Aspekt bedeutsam, wie er
namentlich für die Laienbibeltradition kennzeichnend ist. Im Übrigen
aber gilt es dem Reformator als „ein Ding der Unmöglichkeit, im religiösen
Leben auf alle Anschauung zu verzichten“ . Theologische Begriffe ohne
Anschauung sind leer; eine spiritualisierende Aufhebung der religiösen
Vorstellungswelt propagiert Luther daher nirgends. Deshalb kann im Verein mit
dem – gegebenenfalls musikalisch gestimmten und ausdrucksgesteigerten
– Wort durchaus auch das Bild evangelische Dienste verrichten.
Lucas Cranach wird über Luthers Bewertung der Bilderfrage, die nicht erst
im Bilderstreit erkennbar wird, sondern in ihren theologischen Grundlagen seit
Beginn der reformatorischen Bewegung feststeht und „durchgehend gleich
geblieben“ ist, nicht gering erfreut gewesen sein und sie mit Genugtuung
begrüßt haben: War die Angelegenheit für ihn doch auch eine
Sache des Geschäfts. Freilich nicht nur, denn der geordnete Fortgang der
Reformation lag ihm durchaus persönlich und aus religiösen Gründen
am Herzen, wie denn auch seine Beziehung zu Luther sich nicht aufs gelegentliche
Porträtieren beschränkte, sondern in einer Freundschaft gründete,
die durch gemeinsame Überzeugung fundiert war. Was die freund¬schaftliche
Beziehung von Luther und Cranach betrifft, so gehörte nicht nur der Reformator
zu den Taufpaten von Cranachs ältester Tochter, der Künstler seinerseits
war Taufpate bei Luthers Sohn Hans, nachdem er bereits anlässlich der Vermählung
Luthers mit Katharina von Bora 1525 zusammen mit seiner ersten Frau Barbara
Brengbier – einer Gothaer Ratsherrentochter, die er um 1512/13 geheiratet
hatte – als Zeuge der Brautwerbung und geladener Hochzeitsgast aufgetreten
war. Diese Freundschaft basierte, wie gesagt, nicht nur auf individueller Zuneigung,
sondern auf einer gemeinsamen Grundüberzeugung. Zwar darf Cranach nicht
unkritisch und ohne Vorbehalte zum Maler der Wittenberger Reformation stilisiert
werden. Immerhin war er, als Luther 1517 mit seinen Ablassthesen erstmals an
die Öffentlichkeit trat, nicht mehr der Jüngste, sondern mit 45 Jahren
bereits ein „senex“, wie die Humanisten sagen würden. Charakter
und Stil sind in solchermaßen fortgeschrittenem Alter im Wesentlichen
festgelegt; und so verwundert es nicht, wenn im Hinblick auf Stellung und Wirkung
der Kunst Cranachs in der reformatorischen Bewegung gesagt wurde, „dass
manche seiner besten Bilder reformatorische Gedanken in sich tragen, ohne dass
es der Betrachter unbedingt merkt“ . Exemplarisch hat man hierfür
auf Cranachs Melancholie-Darstellungen verwiesen , und sie sind in ihrer antimelancholischen
und insbesondere antiastrologischen Anlage in der Tat ein signifikantes, wenngleich
verhal¬tenes Beispiel reformatorischer Anschauungen, namentlich wenn man
sie mit Dürers berühmtem „Melancholie“-Kupferstich von
1514 vergleicht. Im Übrigen wird man sich auch heute noch die Frage gefallen
lassen müssen, ob die verbreitete Einordnung der beiden Cranachs als „Maler
der Reformation“ nicht auch deshalb einer Einschränkung bedarf, weil
sich ihr Schaffen „in seiner Gesamtheit …. besser aus den wech¬selnden
Auftragsvorstellungen der mitteldeutschen Fürsten¬höfe, ihres
dienstbaren Adels und der von den Herrschaften abhängigen Bürger ableiten
(läßt)“ .
Wahr ist, dass Cranach kein autonomer Künstler im moder¬nen Sinne,
sondern soziokultureller Repräsentant eines frühmodernen Territorialfürstentums
war; und wahr ist auch, dass nackte Frauen (eine von ihnen hat keinen geringeren
als Pablo Picas¬so zu einer Gouache gereizt) in seinem Werk weitaus häufiger
begegnen als die würdigen Häupter von Kirchenreformern. Nichtsdestoweniger
– spezifisch Reformatorisches lässt sich nicht übersehen; insonderheit
drei bestimmende Themenkreise sind es, die als protestantische Bildaufgabe begegnen
: Neben den Für¬stenporträts, erstens, wie schon erwähnt,
die zahlreichen Porträts Wittenberger Reformatoren, allen voran Luthers
(samt Familie), aber auch Melanchthons, Bugenhagens, Spalatins usf. Zu erwähnen
sind zweitens die Revision und Modifikation überkommener Bildmotive im
Sinne neu gewonnener theologischer Einsicht, wofür der Holzschnitt „Die
Himmelsleiter des hl. Bonaventura“ ein anschauliches Beispiel gibt , sowie
die Einführung einzelner, bislang vernachlässigter Szenen in der bildenden
Kunst wie etwa des antianabaptistischen Bildmotivs der Kindersegnung Jesu nach
Mk 10, „das erst durch Cranach in die Tafelmalerei eingeführt worden
ist“ . Hinzu kommen, drittens, neben Holzschnitten für polemische
Flugblätter etc. illustrative Veranschaulichungen und bildliche Ausformungen
zentraler litur¬gischer und theologischer Gehalte wie des Vollzugs der Heilsmittel
sowie der ursprünglichen Einsicht der Reformation, welche durch das Evangelium
von der Rechtfertigung des Sünders aus Gnade um Christi willen durch Glauben
veranlasst und begründet ist. Einschlägig sind hier vor allem die
Sequenzen zur Gesetz-Evangeliums- bzw. Sündenverhängnis-Erlösungs-Thematik,
die im Altarbild der Stadtkirche St. Peter und Paul zu Weimar zur Vollendung
gelangen. Bevor darauf einzugehen ist, noch ein Wort zu Cranachs Person.
Cranach kommt von Kronach. Er, den wir Cranach den Älteren nennen, ist
dort wahrscheinlich am 4. Oktober 1472 (Zweifel an Geburtsdatum und jeweiligen
Altersangaben gibt es bis heute) geboren und hat seit 1504 den Namen seiner
Heimatstadt als Monogramm auf seine Werke gesetzt: LC. Da die Oberfranken das
O bekanntlich noch heute so offen aussprechen, „daß beim Aufschreiben
des Vokals leicht ein A gewählt werden kann“, verwundert es nicht,
wenn aus Lucas von Kronach Lucas Cranach wurde. Der Vater, seinem erlernten
Beruf entsprechend als Hans Maler bezeichnet, war vermutlich aus dem bairischen
Sprachraum nach Kronach zugewandert. Dass er seinen ältesten Sohn auf den
Namen Lucas taufen ließ, ist sicherlich vor allem darin begründet,
dass der biblische Lukas im Mittelalter als Schutzheiliger der Maler dargestellt
wurde , weil er der Legende nach ein Mann von hoher Kunstfertigkeit gewesen
sein soll. Kein Wunder, dass sich bald auch Gemälde von des Apostels eige¬ner
Hand einfanden: Rom gar rühmte sich, ein von St. Lukas gemaltes Christus-Bild
zu besitzen. (Freising kann immerhin mit einem lukanischen Marien-Porträt
aufwarten.)
Als der Kronacher Malersohn Lucas geboren wurde, war seine Heimatstadt mit der
Veste Rosen¬berg in ihrer Mitte zwar ein „wich¬tiger Stützpunkt
der Landesverteidigung nahe der sächsischen Grenze“, im Übrigen
aber „auch für damalige Verhältnisse eine Kleinstadt“,
die im Territorium der Bischöfe von Bamberg, dem sie zugehörte, klar
hinter den Städten Forchheim und Bamberg zurückstand. Dennoch hat
es Cranach geraume Zeit in Kronach gehalten, ohne dass wir Genaueres über
sein künstlerisches Wirken in der Heimatstadt wüssten. Am ehesten
wird man an Gemeinschaftsarbeiten mit dem Vater zu denken haben, der ihn in
der Malerei unterrichtet haben dürfte. Nach einer für das Jahr 1500
vermuteten Beschäftigung im nahe gelegenen Coburg (dessen Veste verbreiteter
Annahme zufolge ein von Herzog Johann dem Beständigen, dem Mitregenten
und späteren Nachfolger seines Bruders Friedrich des Wiesen, seit 1499
gerne besuchter kur¬sächsischer Residenzort war) ist Cranach dann bald
nach Wien gezogen, wo er unter den Einfluss des sog. Donaustils geriet und Zugang
zu den humanistischen Kreisen um Conrad Celtis fand, deren religiös-naturphilosophische
Gedankenwelt er als Maler und Buchillustrator ins Bild setzte.
Bereits 1504 wird Cranach vom sächsischen Kurfürsten Friedrich dem
Weisen – möglicherweise durch Vermittlung von Celtis – als
Hofmaler nach Wittenberg berufen, wohin er 1505 übersiedelt und wo er fortan
die meiste Zeit seines Lebens verbringt – sehr erfolgreich übrigens,
was soziales Ansehen und materiellen Reichtum betrifft: Seine Steuererklärung
weist ihn als Immobilienspezialisten mit Apothekenprivileg und als einen der
reichsten Männer der Stadt an der Elbe aus, in der er – kommunalpolitisch
ständig aktiv – einige Jahre lang sogar als Bürgermeister amtierte.
Von 1505 bis 1547 und von 1550 bis zu seinem Tode 1553 steht Cranach in beständigem
Dienst der sächsischen Kur¬fürsten, denen er persönlich und
in seinem künstlerischen Schaffen treu – zu treu, wie manche Kritiker
meinen – ergeben war. So ließ er es sich nicht nehmen, seinem dritten
Dienstherrn nach Friedrich dem Weisen und Johann dem Beständigen, dem Kurfürsten
Johann Friedrich (Johann des Beständigen Sohn), nach anfänglicher
krankheitsbedingter Verzögerung trotz hohen Alters in die Gefangenschaft
zu folgen. Johann Friedrich, bereits 1546 zusammen mit dem hessischen Landgrafen
Philipp vom Kaiser geächtet, hatte am 24. April 1547 im Verein mit dem
Schmalkaldischen Bund der Protestanten in der Schlacht bei Mühlberg an
der Elbe eine verheerende Niederlage erlitten. Die Kurwürde geht den Ernestinern
verloren und auf den Albertiner Moritz von Sachsen – den „Judas
von Meißen“, wie er genannt wird – über, der zudem den
Kurkreis erhält, zu dem Wittenberg gehört. Der gefangene Johann Friedrich,
zu dessen Gunsten Cranach im Lager Karls kniefällig, doch ohne Erfolg sich
verwendet hatte, zieht mit dem Kaiser nach Augsburg, wo er sich über längere
Zeit aufhält. 1550 folgt ihm Cranach dorthin, um erneut als sein Hofmaler
tätig zu sein, nachdem das Dienstverhältnis seit 1547 unterbrochen
war. Unter dem Einfluss Tizians, dem Cranach 1550/51 in Augsburg begegnet, entsteht
ein Bildnis des Kaisers. Als er, der Kaiser, noch ein Kind war, ist ihm jener,
Cranach, angeblich schon das erste Mal begegnet: Im Jahre 1508, in welchem Friedrich
der Weise seinem Hofmaler das Zeichen der geflügelten Schlange (von nun
an Cranach’sches Firmenemblem ) als Wappenbild verlieh, gelangte dieser,
wie man hört, in einer diplomatischen Mission, zu der ihn sein Kurfürst
beauftragt hatte, an den Hof Kaiser Maximilians I. in die Niederlande, wo er
nicht nur prägende Kunsteindrücke gewonnen, sondern auch den achtjährigen
Erzherzog und nachmaligen Kaiser Karl porträtiert haben soll.
44 Jahre danach befindet sich Karl, der sich eben noch kurz vor der Realisierung
seiner universalmonarchischen Pläne und der Wiederherstellung der religiösen
Einheit des Reiches wähnte, in ärgster Bedrängnis. Am 3. April
1552 zieht Kurfürst Moritz von Sachsen, der heimlich die Fronten gewechselt
hatte, in Augsburg ein, gibt den Protestanten ihre von Karl V. entzogenen Kirchen
zurück, um sich sodann gegen den Kaiser in Richtung Innsbruck zu wenden,
wo sich mittlerweile auch Cranach und Johann Friedrich befinden. Der Kaiser
entflieht mit knapper Not nach Kärnten – im Handstreich um alle seine
Erfolge gebracht. Nach dem Passauer Friedensvertrag vom 2. August 1552 wird
Johann Friedrich als Herzog wiedereingesetzt und trifft Ende September mit Cranach
und Gefolge im Triumphzug in Weimar ein, wo er künftig residiert. Cranach
wohnt im Hause seiner Tochter Barbara, die 1543 den Sohn des kursächsischen
Altkanzlers Gregor Brück, Dr. Christian Brück, seines Zeichens Weimarer
Kanzler, geehelicht hatte. Dort stirbt der alte Cranach. Der Grabstein des Kronachers
trägt die lateinische, hier in sinngemäßem Deutsch wiedergegebene
Inschrift: „Im Jahre 1553, am 16. Oktober, starb gläubig Lucas Cranach
I., sehr schnell schaffender Maler und Wittenberger Bürgermeister, der
wegen seines tugendvollen Charakters von drei sächsischen Kurfürsten
sehr geliebt war, im 81. Lebensjahr.“
Die letzten Monate seines Schaffens hatte der „pictor celerrimus“
dem großen Flügelaltar der Weimarer Stadtkirche St. Peter und Paul
(heute u. a. auch Herderkirche genannt) gewidmet, dessen Mittelbild mit Recht
die „großartigste Zusammenfassung von Cranachs Themen auf evangelischen
Altarbildern“ genannt wurde. Das Altarwerk ist konzipiert als Epitaph
für Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen und seine Familie. Während
die Innenseite des linken Altarflügels Johann Friedrich und Sibylle von
Jülich-Cleve, die des rechten deren Söhne darstellt, ist das Zentrum
der Mitteltafel und damit die Gesamtkonzeption beherrscht von einem raum- und
zeitumgreifenden Crucifixus, an dessen die Repräsentanten der weltlichen
Macht in feierlicher Anbetung verharren. Seinem aus frischem Rundholz gefertigten
und auf fruchtbarem Boden errichteten Kreuz ist in der Tiefe des Bildraumes
rechts oben antitypisch das Kantholz der Ehernen Schlange inmitten der in einer
unbewachsenen Felsenwüste lagernden Israeliten zugeordnet. Um zu verstehen,
was damit ge¬meint ist, lese man Num 21,4–9 und Joh 3,14 f. Wie der
Stab des Mose auf die Eherne Schlange deutet, so verweist Johannes der Täufer
auf den Gekreuzigten als das geopferte Gotteslamm, welches – so steht
es auf dem Banner geschrieben – der Welt Sünde trägt (Joh 1,29)
und damit jene Erlösung schafft, die dem Volk des Alten Bundes nur gleichnis-
und schattenhaft sich ankündigte.
Eine weitere Szene zeigt erneut Mose, diesmal in seiner Eigenschaft als alttestamentlichen
Gesetzgeber, der den von Tod und Teufel gehetzten Menschen mit den am Sinai
übergebenen Tafeln des göttlichen Gesetzes konfrontiert, ohne ihm
dadurch freilich die ersehnte Hilfe zuteil werden zu lassen und ihn von jenem
ziellosen Kreislauf der Verzweiflung abbringen zu können, welcher zwangsläufig
im Feuer der Hölle enden muss. Dem bodenlosen Fall in den Abgrund der Hölle
zu entkommen, wird, so lautet die Botschaft des Bildes, durch die Werke des
Gesetzes nicht nur nicht möglich, sondern schlechterdings unmöglich
gemacht, weil das Gesetz den Menschen, indem es ihn auf sich selbst und sein
Eigenvermögen verweist, immer tiefer in die Selbstverkehrung und die ausweglose
Enge der Angst treibt. Mit Luther zu reden: „Dem Teufel ich gefangen lag,/im
Tod war ich verloren,/mein Sünd mich quälte Nacht und Tag,/darin ich
war geboren./Ich fiel auch immer tiefer drein,/es war kein Guts am Leben mein,/die
Sünd hatt’ mich besessen./Mein guten Werk, die galten nicht,/es war
mit ihn’ verdorben;/der frei Will haßte Gotts Gericht,/er war zum
Gutn erstorben;/die Angst mich zu verzweifeln trieb,/daß nichts denn Sterben
bei mir blieb,/zur Höllen mußt ich sinken.“ (Evang. Gesangbuch
341, Str. 2 u. 3)
Aus dem teuflischen Schlund höllischer Verzweiflung und den mörderischen
Fängen der Todesangst zu erretten vermag, das ist die andere, die heilsame,
evan¬ge¬lische Botschaft des Bildes, allein der auferstandene Gekreuzigte,
der – dem offenen Grabe entstiegen – Tod und Teufel in machtvoller
Mühelosigkeit sich unterwirft. Nichts anderes als dies will der uns im
rechten unteren Bildrand entgegentretende Reformator mit seinem auf Worte des
Neuen Testaments verweisenden, die Haltung Moses zugleich aufnehmenden und in
den Hintergrund drängenden Zeigegestus bezeugen: „Das Blut Jesu Christi
reinigt uns von allen Sünden. Darum laßt uns hinzutreten mit Freudigkeit
zu dem Gnadenstuhl, auf daß wir Barmherzigkeit empfangen innen und Gnade
finden auf die Zeit, wann uns Hilfe not sein wird. Gleich wie Moses in der Wüste
eine Schlange erhöhet hat, also muß auch des Menschen Sohn erhöhet
werden, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern
das ewige Leben haben.“ (vgl. 1. Joh 1,7; Hebr 4,16; Joh 3,14 f.) Eben
dies sind die Worte, welche die betrachtende Gemeinde in dem aufgeschlagenen
Bibelbuch des Reformators auf deutsch mit eigenen Augen und unter den offene
Zuwendung signalisierenden Blicken ihres lebendigen Herrn nachlesen kann.
Es würde zu weit führen, die auch nicht annähernd erschöpfte
Fülle der auf Grundeinsichten reformatorischer Theologie basierenden Bildelemente
im Einzelnen zu benennen. Dass das Weimarer Altarbild das Grundsatzprogramm
reformatorischer Theologie von der Rechtfertigung des Sünders aus Gnade
um Christi willen durch Glauben abbildet, dürfte offensichtlich sein. In
diesem Sinne hat es zugleich als das künstlerische Testament von Lucas
Cranach d. Ä. zu gelten, der uns an der Seite Luthers, dem er über
lange Jahre hinweg nicht nur sachlich, sondern auch persönlich aufs engste
verbunden war, vom Blutstrahl der Gnade getroffen in Anbetung Jesu Christi entgegenblickt.
Wie gesagt: Cranach d. Ä. hatte das Gemälde – nach mehrjähriger,
zusammen mit seinem Landesherrn Johann Friedrich infolge der protestantischen
Niederlage im Schmalkaldischen Krieg unter Karl V. erduldeter Gefangenschaft
von Wittenberg nach Weimar umgesiedelt – noch als Achtzigjähriger
begonnen, starb aber über der Durchführung, so dass die Vollendung
im Jahre 1555 seinem Sohn Lucas Cranach d. J. (1515–1586) vorbehalten
blieb, wobei man die Mitarbeit anderer Künstler (Peter Roddelstedt etwa)
nicht ausschließen kann. In Anbetracht dieses Umstandes hat man mit Recht
gesagt, dass das Weimarer Altarwerk zu einem „Epitaph und Glaubenszeugnis“
nicht nur für den kurfürstlichen Stifter Johann Friedrich, sondern
ebenso „für Cranach selbst“ geworden ist. Das wird durch die
Tatsache bestätigt, dass die das Werk bestimmende Thematik von Gesetz und
Evangelium bzw. Gesetz und Gnade, Sündenfall und Erlösung den Künstler
über viele Jahre hinweg beschäftigt hat und für lange Perioden
seines Schaffens in besonderer Weise theologisch signifikant ist.
Das Grundmotiv des Lehr- und Merkbilds von der Rechtfertigung des Sünders
vor dem Gesetz durch die Gnade Gottes und den Glauben geht auf das Jahr 1529
zurück, in welchem Cranach „den Bildgegenstand ,Gesetz und Evangelium‘
in zwei der Anlage und dem Konzept nach recht verschiedenen und sich doch nahestehenden
Gemälden mit einer jeweils überaus weit reichenden Wirkung ausgeprägt“
hatte. Um nur den ersten, den sog. Gothaer Typus ins Auge zu fassen, wie er
durch ein auf Schloss Friedenstein zu sehendes Bildwerk ursprünglich repräsentiert
, durch einen kurz danach angefertigten Holzschnitt weit verbreitet und von
Cranachs Werkstatt immer wieder variiert wurde, etwa in einem um 1535 entstandenen
Gemälde auf Buchenholz, das heute als Leihgabe des Wittelsbacher Ausgleichsfonds
im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg zu sehen ist : Das Bild ist durch
den Stamm eines Baumes klar in zwei Kontrasthälften geteilt, die den beiden
Titelbegriffen Gesetz und Gnade entsprechen und sich wie Altes und Neues zueinander
verhalten. Das dürre Geäst zur Linken verweist auf die Zeit und Sphäre
des Todes und des Teufels, aus welchem das Gesetz des Moses nicht erretten konnte.
Das grünbelaubte Geäst zur Rechten hingegen deutet auf die Zeit und
Sphäre der Gnade hin, in deren Mittelpunkt der auferstandene Gekreuzigte
steht. Betrachtet man die einzelnen Bildelemente etwas genauer, so sind auf
der linken Bildhälfte Adam und Eva – die Stammeltern der Menschheit
– nackt beim Sündenfall an dem Paradiesesbaum mit der Schlange zu
sehen. Am oberen Bildrand, zwischen Höllenrauch und dürren Ästen,
thront Christus beim Jüngsten Gericht, während Engel die Gerichtsposaunen
über die verlorenen Sünder blasen. Darunter treiben vor einem finsteren
Wald Tod und Teufel den mittlerweile seine Blöße schamvoll bedeckenden,
geängstigten und händeringend nach Hilfe flehenden Menschen über
einen steinigen und abschüssigen Weg in den bodenlos dunklen Abgrund des
Höllenfeuers. Links am Fuße des Baumes steht Moses mit den beiden
Gesetzestafeln, umringt von Jesaja und zwei weiteren Propheten. Ihrer Schar
ist rechterseits – bereits jenseits der Trennlinie des Stammes –
Johannes der Täufer zugeordnet, durch den der entscheidende Blickwechsel
herbeigeführt wird: weg von der gebannten Rückschau auf Tod und Teufel,
welcher auch noch die Gottesmänner des Alten Bundes verhaftet sind, hin-
und vorwärtsweisend auf den Gekreuzigten, dem schon heute die Zukunft gehört
und der aus Vergänglichkeit, Verwesung und höllischer Sündenpein
vollmächtig zu erretten vermag. Durch den doppelten, auf den Crucifixus
und das Osterlamm zugleich gerichteten Fingerzeig des Johannes ist die gesetzliche
Weisung des Moses aufgehoben im dreifachen Sinne des Begriffs: bewahrt, überhöht
und in ihrer Eigengesetzlichkeit erledigt.
Was das näherhin heißt, ist nicht leicht zu fassen. Sehen wir genauer
zu, dann werden wir auf der rechten Bildhälfte in der oberen Mitte eine
Darstellung der Inkarnation entdecken in Gestalt von Mariens Empfängnis,
der vom Himmel das Christkind mit dem Kreuzesbalken zufliegt; darunter verkündigt
der Weihnachtsengel den Hirten auf dem Felde die nahende Ankunft des Herrn.
Die in mehrfacher Hinsicht hintergründige Geschichte der Menschwerdung
wird dann sogleich zentriert auf das über der Weltkugel aufgerichtete Kreuz,
dem antitypisch das Bildnis der Ehernen Schlange zugeordnet wird gemäß
Joh. 3,14, wo es heißt: „Und wie Mose die Schlange in der Wüste
erhöht hat, so muß der Menschensohn erhöht werden, damit jeder,
der an ihn glaubt, in ihm das ewige Leben hat.“ Aus der Seitenwunde des
Gekreuzigten dringt – von der Taube des Heiligen Geistes geleitet –
das Blut der Versöhnung unmittelbar ins Herz des in getroster Anbetung
verharrenden Menschen, ihm das Heil der Erlösung bereitend. Die betonte
Parallelführung des Gnadenblutes mit dem Todesspieß zur Linken unterstreicht
diese Aussage. Das Osterlamm zu Füßen des Kreuzes schließlich
zeigt an, was dann auch noch eigens bildnerisch ausgeführt wird, dass nämlich
der Gekreuzigte in siegreicher Auferstehung das Grab verlassen, Tod und Teufel
sich unterworfen hat und durch seine Himmelfahrt ins ewige Leben eingegangen
ist, um zur Rechten Gottes zu sitzen und denen, die im Glauben an ihm hängen,
Recht und dauerhaften Bestand vor Gott zu vermitteln.
Im Übrigen ist es wichtig zu sehen, dass die gesamte bildliche Darstellung
auf dem Wort der Schrift basiert, das wir am unteren Bildrand mehrfach und ausdrücklich
zitiert finden. Diese Zitate geben auch die entscheidenden Hinweise, wie die
innerste Sinnmitte des Bildes und der in ihm dargestellten biblischen Geschichte
zu verstehen ist. Ich erwähne nur den Vers aus dem 3. Kapitel des Römerbriefes,
der im Bild dem Beginn der Heilsgeschichte grundgelegt wird und wo zu lesen
steht: „So halten wir nun dafür, daß der Mensch gerecht werde
ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben“ (Röm 3,28). Vergleichbare
Bildfundierungen finden sich in allen Cranach’schen Serienbildern zur
Gesetz- und Evangeliums-Thematik. Stets „sind in der Sockelzone, zuweilen
auch am oberen Bildrand, Bibelzitate in einer bestimmten, sich wiederholenden
Auswahl und Plazierung beigegeben“ . Dieses Verfahren entspricht ganz
den Forderungen Luthers und lutherischer Bildtheologie: „Allein das lesbare
Wort Gottes, als theologische Kategorie eingebracht in das Bild über ,sichtbare
Wörter‘, schien zu gewährleisten, daß ihm die lehrmäßige
Grundaussage unzweideutig und unverfälscht, sachbezogen und korrekt zu
ennehmen war … Auch wenn einerseits das Einfügen von Texten in das
Bild keinesfalls eine unabdingbare Forderung für religiöse Bilder
im Bereich der lutherischen Lehre war, wie Bilder und Altäre ohne Inschriften
erkennen lassen, und andererseits die reformatorische Konzentration auf die
theologische Kategorie ,Wort‘ Aufschriften nicht ausschließlich
direkt bewirkt zu haben brauchte, fiel den ,sichtbaren Wörtern‘ eine
sich von Inschriften vor der Reformation wesentlich unterscheidende Funktion
zu. Die Texte waren aus theologischer Sicht die eigentliche, offenbarungsgebundene
und zugleich lehrmäßig zentrale Aussage der lutherischen ,Merkbilder‘,
die verbildlichte Anschaulichkeit der Grundaussagen des neuen Glaubens dagegen
ein zweckentsprechendes Mittel zur Unterrichtung in der Lehre.“ Auch wenn
man hier zurückhaltender urteilen und der bildenden Kunst ein größeres
Maß an reformatorischer Eigenständigkeit attestieren möchte,
so ändert das doch nichts an der entscheidenden Tatsache, dass die Serienbilder
Cranachs bzw. der Cranach-Werkstatt zur Gesetz- und Evangeliums-Thematik, wie
sie in dem singulären Altarwerk von Weimar sich vollenden, einem didaktischen
Konzept Wittenberger Theologie folgen und als bedeutsame ikonographische Ausdrucksgestalten
reformatorischer Lehre zu werten sind.
Vieles spricht für die Annahme, dass Cranachs Merkbildkompositionen zur
Rechtfertigungsthematik in direkter Zusammenarbeit mit Luther entstanden sind,
der damit Werkgerechtigkeit tatsächlich oder vermeintlich befördernde
Bildkonstruktionen des Spätmittelalters beseitigen und einen neuen Typus
evangeliumsgemäßen Glaubensbildes schaffen wollte. Dass dabei der
durch keine Dialektik zu beseitigenden und gleichwohl von Beziehungslosigkeit
gänzlich unterschiedenen Antithetik von Gesetz und Evangelium zentrale
Bedeutung zukommen musste, ist für niemanden eine Überraschung, der
auch nur irgendetwas von lutherischer Theologie zur Kenntnis genommen hat. Ist
doch für Luther die rechte Unterscheidung von Gesetz und Evangelium wie
„die höchste kunst jnn der Christenheit“ (WA 36,9, 28 f.),
so auch die notwendigste Aufgabe christlicher Theologie, von deren Wahrnehmung
allein jene Glaubensorientierung zu erwarten ist, welche Irrtum und Verirrung
zu vermeiden hilft.
Um im Anschluss an die Schmalkaldischen Artikel nur das Wichtigste zu sagen:
Nach ASm III,2 f. (BSLK 435,17 ff.) hat das Gesetz die ursprüngliche Aufgabe,
durch Strafandrohung und Lohnangebot der Sünde zu steuern. Indes habe diese
Funktion des Gesetzes „der Bosheit halben, so die Sunde im Menschen gewirkt“,
zu üblen Folgen geführt. Unter postlapsarischen Bedingungen fungiert
das Gesetz Gottes demnach in bestimmter Weise kontraproduktiv, und zwar in zweierlei
Hinsicht: bei den einen nämlich, den „rohen, bosen Leute(n), die
Boses tun, wo sie Stätt und Raum haben“, bewirkt es eine Steigerung
ihrer Bosheit, so dass sie ärger werden als zuvor. Weil ihnen nämlich
das Gesetz verbietet, was sie gerne tun, und gebietet, was sie ungern tun, sind
sie ihm feind und handeln daher, sofern sie die Strafe nicht daran hindert,
nur noch mehr dem Gesetz zuwider. Die anderen hinwiederum werden „blind
und vermessen, lassen sich dunken, sie halten und konnen das Gesetz halten aus
ihren Kräften, wie itzt droben gesagt ist von den Schultheologen. Daher
kommen die Heuchler und falsche Heiligen.“ In Anbetracht dieser kontraproduktiven
Folgen des Gesetzes gelangt Luther zu einer theologischen Umbestimmung der wesentlichen
Gesetzesfunktion. Die vornehmste Aufgabe oder Kraft des Gesetzes sieht er nun
darin, „daß es die Erbsunde mit Fruchten und allem offenbare und
dem Menschen zeige, wie gar tief und grundlos seine Natur gefallen und verderbet
ist, als dem das Gesetz sagen muß, daß er keinen Gott habe noch
achte oder bete frembde Gotter an, welchs er zuvor und ohn das Gesetz nicht
gegläubt hätte. Damit wird er (sc. der Mensch) erschreckt, gedemutigt,
verzagt, verzweifelt, wollt gern, daß ihm geholfen wurde, und weiß
nicht, wo aus, fäht an, Gotte feind zu werden und murren etc.“ Es
gilt Röm 4,15 u. 5,20. Der eigentliche theologische Gebrauch des Gesetzes
ist entsprechend der usus elenchticus legis: Das Gesetz, das den Sünder
zum peinlichen Bewusstsein seiner Schuld führt und nicht allein durch das
Alte, sondern, wie Luther unter Berufung auf Röm 1,18; 3,19 f. und Joh.
16,8 darlegt, auch durch das Neue Testament ausgeübt wird, schlägt
als eine Donneraxt und als ein Hammer Gottes (Jer 23,29) „beide, die offenbärlichen
Sunder und die falschen Heiligen in einen Haufen und läßt keinen
recht haben“; es treibt sie vielmehr „allesampt in das Schrecken
und Verzagen“, wobei solches Schrecken und Verzagen nicht die gemachte
Reue der activa contritio ist, sondern die passiva contritio, das recht Herzeleid,
Leiden und Fuhlen des Todes“. Wie rechte Buße dem Büßer
jede Möglichkeit selbsttätiger Rechtfertigung entzieht, so relativiert
der gesetzliche Urteilsspruch Gottes, wie das Gewissen ihn wahrnimmt, alle Differenzen
innerweltlicher Sittlichkeit, so dass gilt: „Es ist nichts mit Euch allen,
Ihr seid offentliche Sunder oder Heiligen, Ihr mußt alle anders werden
und anders tun, weder Ihr itzt seid und tut, Ihr seid wer und wie groß,
weise, mächtig und heilig, als Ihr wollt, hie ist niemand fromm ….“
Angesichts dessen gibt es nur eine Rettung und einen einzigen Trost: das Evangelium
von der unbedingten und bedingungslosen Gnade Gottes. Nur im Zusammenhang mit
ihm kommt schließlich auch dem Gesetz ein heilsamer Wert zu; denn wo –
um noch einmal ASm III,2 f. (BSLK 437,24–26) zu zitieren – das Gesetz
sein überführendes Amt „allein treibt ohn Zutun des Evangelii,
da ist der Tod und Helle, und muß der Mensch verzweifeln“, wie Röm
7,10 und die Beispiele von Saul und Judas dies zeigen. Grund und personaler
Inbegriff des Evangeliums hinwiederum ist niemand anders als allein der gekreuzigte
und auferstandene Jesus Christus, wie er uns in Cranachs Weimarer Altarwerk
vor Augen gestellt wird. Nur im Blick auf den auferstandenen Gekreuzigten ist
demnach Heil und beständiger Trost zu finden.
Das ist, um zum Schluss und in diesem Zusammenhang noch einmal auf den Ursprungsort
lutherischer Reformation zu kommen, auch die entscheidende Botschaft des großen
Flügelaltars der Wittenberger Stadtkirche, den Cranach in Zusammenarbeit
mit seinem Sohn und seiner Werkstatt 1547 – ein Jahr nach Luthers Tod
und „in dem Augenblick des ausbrechenden Krieges“ – fertig
gestellt hat. Auf der Predella, welche die Basis der Gesamtkonzeption bildet,
sieht man den Reformator, mit dem ausgestreckten Finger die Gemeinde auf den
Inhalt aller evangelischen Predigt und das Zentrum jedweden Christentums verweisen:
auf den gekreuzigten Herrn. In ihm gründet die Kirche, deren sakramentale
Heilsvollzüge sodann zusammen mit der Predigt des Wortes auf den Einzeltafeln
dargestellt werden. Das Hauptfeld zeigt die Stiftung des Herrenmahls. Wir sehen
die Schar der Jünger am runden Tisch ihres Herrn versammelt und zur Einheit
zusammengeschlossen – unter ihnen Luther, wie er gerade den gefüllten
Kelch entgegennimmt, das biblische Recht der communio sub utraque specie dokumentierend.
Auf dem linken Flügel ist das Taufsakrament abgebildet, welches Melanchthon
im Beisein der Gemeinde einem Kleinkind spendet. Der andere Seitenflügel
schließlich zeigt Bugenhagen, den Wittenberger Stadtpfarrer und Beichtvater
Luthers, wie er das „Amt der Schlüssel“ verwaltet – Sünde
vergebend und Sünde behaltend. Hinzugefügt sei, dass auf dem Bildwerk
neben Luther, Melanchthon und Bugenhagen auch noch Katharina von Bora samt Sohn
sowie andere bekannte und unbekannte Glieder der Wittenberger Gemeinde der Reformationszeit
leibhaftig begegnen. Auch in dieser Hinsicht ist der Flügelaltar ein bemerkenswertes
reformationsgeschichtliches Dokument. Im Übrigen aber zeigt Cranach, der
sich wie kein anderer Maler seiner Zeit „in den Dienst der Reformation
gestellt“ hat , auch dieses Mal analog zum späteren Weimarer Altarwerk
„etwas sehr Wesentliches vom Selbstverständnis der Reformatoren.
Nicht sie haben eine neue Kirche geschaffen, sondern sie führen das richtig
weiter, was in der alten, katholischen Kirche verdeckt und verfälscht war“
.
Man verstehe recht: Die mit der Wiedergabe dieses Zitats verbundene Absicht
ist es nicht, jenes historisch sicher unangemessene Bild hochzuhalten oder zu
erneuern, das Cranachs Sohn, Lucas d. J., 1569 als Epitaph für Bugenhagens
Nachfolger Paul Eber angefertigt hat und das im Chor der Wittenberger Stadtkirche
m.W. noch heute zu sehen ist: Es zeigt die Reformatoren als rechte und sorgfältig
hegende Arbeiter im Weinberg des Herrn, den die Papisten veröden ließen
bzw. auf mannigfache Weise verwüstet haben. Dieses pauschalierende Geschichtsbild
weiterzupflegen, besteht, wie gesagt, bei allem Respekt vor „drastischer
Polemik und feinem Humor“ und bei allem Respekt auch vor der kirchengeschichtlichen
Leistung der Reformatoren keine Absicht. In christlich gebotener Bescheidenheit
gesagt werden soll zum Schluss nur dies, dass die Wittenberger Reformation keine
Kirchenneugründung erstrebte, sondern eine Reform der einen, heiligen,
katholischen und apostolischen Kirche, von der CA VII sagt, dass sie allezeit
sein und bleiben müsse.